Aleviten: Gemeinschaft in Vielfalt
Die alevitische Gruppe in Bern, wo das Zusammensein, Freiheit und Gleichberechtigung an oberster Stelle stehen, musste einen langen Weg gehen, um dort zu sein, wo sie jetzt sind. Und zwar in einem Umfeld, in dem sie akzeptiert werden und ohne Ängste ihre Religion ausleben können.
von Liam Kausano, Lina Wecker, Yugeswaree Saseekaran
Das Alevitentum ist eine Religionsgemeinschaft, welche hauptsächlich aus der Türkei kommt, aber auch in der Diaspora (Verstreuung einer Religion) weltweit, praktiziert wird. Zur Gründung des Alevitentums gibt es kein genaues Datum. Es entstand mehr aus einem Prozess, welcher durch Einflüsse vieler verschiedenen Traditionen und Ideen geprägt wurde. Einige sprechen deswegen auch von einer synkretistischen Religion, also einer Religion, die eine Mischung aus verschiedenen Religionen und Bräuchen ist. Ein starker Einfluss hatte dabei der Islam, genauer gesagt das Schiitentum. Aber auch andere Religionen wie zum Beispiel das Christentum, hatten einen Einfluss auf die Entstehung des Alevitentums. Einige Wissenschaftler*innen denken sogar, dass der Ursprung auf die turkmenischen Nomadenstämme Zentralasiens zurückzuführen ist. Hier war die Liebe zum Menschen und zur Natur im Zentrum.
Auch bei den Alevit*innen stehen die Gemeinschaft und die Menschen an oberster Stelle. Ausserdem stehen Ethik, Moral und Gleichberechtigung über den religiösen Praktiken und spielen damit eine sehr grosse Rolle in der Gemeinschaft. Das Alevitentum ist monotheistisch und glaubt so wie der Islam an Allah, also Gott. Das oberste Ziel ist es jedoch die Erleuchtung und die Vollkommenheit zu erreichen, indem man sich an die vier Tore hält (dazu später mehr). Dabei soll man gute Werte wie Bescheidenheit und Nächstenliebe ausleben.
Unterdrückung und Verfolgung
Bereits im osmanischen Reich wurden die Alevit*innen unterdrückt, da sie nicht den sunnitischen Normen entsprachen. Es kam immer wieder zu blutigen Massakern gegenüber den Alevit*innen. Aber auch heute im 21. Jahrhundert erfährt das Alevitentum viele Ungleichheiten. In Ländern wie der Türkei werden Alevit*innen diskriminiert und unterdrückt. Ihre Religion wird nicht als solche angesehen und wichtige Feste und Räumlichkeiten vernachlässigt. Sie haben nicht nur wenig politische Repräsentation, sondern werden auch oft einfach ignoriert. Häufig werden sie auch aufgrund von Missinterpretationen als Schiiten abgestempelt und daher verfolgt. Dies sind nur ein Teil der Gründe, welche zur Folge hatten, dass viele Alevit*innen flüchten mussten und sich in der Diaspora niederliessen.
Durch Migration und die schon erläuterte Unterdrückung der Aleviten haben wir heute alevitische Gruppen in der Schweiz und der Umgebung. Die alevitische Gemeinschaft, die wir besucht haben, hat ihren Standort im Haus der Religionen. Dort treffen sie sich mindestens einmal pro Woche und es gibt kleine Anlässe, bei denen zusammen gefrühstückt, musiziert und einfach das Zusammensein geschätzt wird.
Wir haben die Gemeinschaft in ihrer Dergâh besucht und ein Theaterstück angeschaut, in dem das Alevitentum erklärt wurde. Dieses Theater hat unser Wissensstand über das Alevitentum erweitert und wir konnten viele neue Dinge über diese Religion erfahren.
Nach dem Theater haben wir einen Jugendlichen gefunden, mit dem wir ein Interview führen konnten. Er besucht das Gymnasium Neufeld und war in unserem Alter. Er hat unsere Fragen aus der Sicht einer jugendlichen Person beantworten und uns sehr geholfen.
«In unserer Gemeinschaft unterstützen wir einander egal bei welchem Problem.»
aus dem Theaterstück
Dieses Zitat verdeutlicht noch einmal, wie wichtig jede und jeder ist und dass gerade in dieser Gruppe alle füreinander da sind. Unter den Alevit*innen ist es so, dass sie meistens in spezifische Gruppen unterteilt, sind. Grosse Gruppen sind beispielweise die kurdischen, arabischen, und türkische Alevit*innen. In der Gemeinschaft, welche wir besucht haben, sind Menschen hauptsächlich aus kurdischen und zum Teil, türkischen Gruppen vertreten. Sie ist allgemein sehr durchmischt.
Spirituelle Versammlung und Bräuche
Eine spirituelle Versammlung findet hier sehr selten statt, weil es dazu ausgebildete Menschen braucht und Ressourcen, die nicht oft verfügbar sind. Diese spirituelle Versammlung wird Cem genannt und läuft folgendermassen ab: Das Wichtigste sind die Menschen, die sich in einem Versammlungshaus zusammenfinden. Der Cem wird vom «Dede» (Grossvater) geleitet, eine «Ana» (Mutter) kann eine unterstützende Rolle einnehmen. Diese zwei kennen sich mit den alevitischen Ritualen und Traditionen sehr gut aus und geniessen ein hohes Ansehen unter den Alevit*innen. Wenn kein «Dede» zur Verfügung steht, darf jeder andere Alevit, der sich mit den Ritualen auskennt, einen Cem leiten. In der Schweiz gibt es fast keine ausgebildeten Personen, aber in Deutschland gibt es Menschen, die dazu ausgebildet sind und in die Schweiz reisen, um einen Cem abzuhalten. Dieses Cem findet dann oft in Basel statt, da es dort grössere Gruppen von Alevit*innen gibt. Bei dieser spirituellen Versammlung finden sich dann auch Alevit*innen aus der ganzen Schweiz zusammen. Im Cem sind alle gleichgestellt, denn Alevitinnen und Aleviten glauben, dass in jedem Menschen göttliche Kraft steckt. Daher spielt die Gleichberechtigung aller Menschen für sie eine sehr grosse Rolle. Das gilt auch für alle Teilnehmenden und alle Teile des Cem.
Während dem Cem wird Musik gemacht und gebetet. Das Gebet findet durch den sogenannten Tanz Semah statt. Der Semah ist ein heiliger Tanz, der die Harmonie zwischen Mensch, Natur und Gott symbolisiert. Der Semah funktioniert so, dass Teilnehmende hintereinander im Kreis gehen und dabei eine spezifische Bewegungsabfolge machen. Sie drehen sich wie die Erde, womit sie die Existenz des Universums ehren.
Mit dem Instrument Saz wird Musik gemacht. Damit werden die Kultur, Weisheiten und wichtige Ansätze, wonach die Alevit*innen leben weitergegeben. Meist wird dazu auch gesungen. Die Sprache, die verwendet wird, ist immer unterschiedlich. Es kommt vor allem auch darauf an, in welcher Gruppe von Alevit*innen man sich befindet. Das heisst ob man unter Kurd*innen, Araber*innen oder Türk*innen ist.
Leitsätze
Im Leben der Alevit*innen sind die vier Tore und vierzig Stufen wichtige Leitsätze. Die vier Tore:
- Das Tor der Rechtschaffenheit: Es legt die Grundlage des Zusammenlebens. Es sagt, dass man sich selbst immer im Griff haben und nichts Unrechtes tun sollte.
- Das Tor des Pfades: Es ist die Kenntnis der individuellen Rechte und Ansprüche von sich selbst aber auch von anderen. Es soll einem helfen, die Umwelt anders wahr zu nehmen und einem den Weg leiten.
- Das Tor der Erkenntnis: Es will einem helfen, an Wissen und Weisheiten zu gelangen und gleichzeitig sich von negativem wie Hass zu entfernen.
- Das Tor der Wahrheit: Das vierte Tor soll einen dazu bringen, ein vollkommener Mensch zu sein.
Jedes Tor hat zehn festgelegte «Punkte», die das Tor vertiefen und besser beschreiben. Diese «Punkte» bilden dann die vierzig Stufen.
Die Dergâh
Traditionell haben Alevit*innen keine Sakralräume. Sie verwendeten jedoch Orte in der Natur die sie als heilig betrachteten. Diese Orte konnten von Bergen, Flüssen bis hin zu Bäumen sein. Alevit*innen betrachten die Natur als Manifestation von Gott. Heute ist die Dergâh (persisch: Tor) der zentrale Versammlungsort der Alevit*innen. Die Naturorientierung lässt sich in der Architektur der Dergâhs widerspiegeln. Elemente wie Feuer, Licht, Luft, Wind, Wasser und Erde wurden in der Gestaltung des Raumes miteinbezogen.
In der Dergâh Bern zieht das 200 x 250 cm grosse Bild «Tîja Homete» die Aufmerksamkeit auf sich. Das von Oskar Weiss gemalte Bild symbolisiert den alevitischen Glauben. Dieses einzigartige Gemälde wurde speziell für die Dergâh in Bern geschaffen.
Die Alevit*innen treffen sich jeden Sonntag in der Dergâh ab 10:00 Uhr. Dort frühstücken sie, führen verschiedene Rituale aus und betätigen sich bei sozialen und kulturellen Aktivitäten. Der Dergâh im Haus der Religionen Bern bietet Platz für ungefähr 200 Personen und kann für vielfältige Veranstaltungen gemietet werden.
Zahlen und Organisation
Der Förderverein Alevitische Kultur (FAK) in der Dergâh Bern setzt sich für den Erhalt von Alevitischer Kultur, Tradition und Religion sowie für die Aufarbeitung der Geschichte ein. Ziel des Vereins ist es, langfristig für Alevit*innen jeden Alters in der Schweiz einen Versammlungsort zu geben.
Der Vorstand des Alevitischen Dergâh im Haus der Religionen besteht aus sieben Mitglieder*innen. Von Nevroz Özbek wurden wir am Tag unseres Besuches empfangen. Der Vorstand trifft sich regelmässig, um wichtige Entscheidungen zu treffen, die Zuständigkeit für die laufenden Aufgaben zu klären und zu organisieren. Verschiedene Dabei werden auch viele verschiedene Aufgaben unter den Mitgliedern des Vorstandesaufgeteilt und wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Der Präsident des Vorstandes, Kemel Tunc, ist die erste Ansprechperson nach Innen und Aussen. Er ist auch verantwortlich für die Buchhaltung und Finanzen. Auch Menschen ausserhalb des Vorstands sind in der Gemeinschaft sehr engagiert, wie beispielweise Frau Özlem Duvarci, die für Führungen zuständig ist.
«Für uns ist es wichtig, anderen zu helfen und für Gleichberechtigung zu kämpfen.»
aus dem Theaterstück
Bei unserem Besuch in der Gemeinschaft wurde schnell klar, was der Respekt, das Zusammensein und die Gleichberechtigung für eine Rolle spielen. Wir haben das Haus der Religionen mit einem sehr positiven Eindruck verlassen und das Familiäre dieser Gemeinschaft wird uns noch lange in Erinnerung bleiben.
Kontakt
Förderverein Alevitische Kultur
Europaplatz 1
3008 Bern
email hidden; JavaScript is required
https://aleviten.ch
Ihr habt den Charakter der Religion, richtig erklärt. Im Internet findet man oft falsche Angaben. Sehr cool.
Allgemein wusste ich noch fast nicht über die Aleviten. Der Text ist sehr aufklärerisch und spannend geschrieben. Besonders gefällt mir den Text über das Gemälde und wie dieses den Glauben der Aleviten symbolisiert. Ich habe keine Fragen zum Porträt.
Ich mag es, wie ihr die Gemeinschaft so interessant beschrieben habt. Es ist sehr gut verständlich.
Ich finde das Porträt sehr spannend, besonders weil es wichtige Themen wie Geschichte, Werte, Herausforderungen des Alevitentums abdeckt. Die Aspekte Gleichberechtigung und Respekt zeigen, wie das Alevitentum in der Praxis gelebt wird.
Vorher kannte ich diese Religion nicht. Ich finde es interessant wie wichtig Musik und der Tanz in dieser Religion sind und so die Menschen mit Natur und Gott verbinden.
Mir war zum Alevitentum fast nichts bekannt, dadurch habe ich viele neue Dinge dazugelernt. Mir gefällt es, dass ihr euer Aufenthalt detailliert beschrieben habt und man so auch die Stimmung gut miterleben kann.
Ich wusste wenig über das Alevitentum und fand die Werte, die in der Gemeinschaft wichtig sind, besonders interessant.