Eine jüdische Beerdigung

Bild: Johsin18, commons.wikimedia.org

von Cyril Gränicher

Kurz vor zwei Uhr treffen wir den Rabbiner, und die Trauergemeinde versammelt sich in der Abdankungshalle. Männer und Frauen sitzen getrennt; die engsten Angehörigen in der vordersten Reihe. Die Männer bedecken ihre Köpfe mit einer Kippa.

Doch bevor es zur eigentlichen Beerdigung kommt, sind bereits viele Dinge passiert. Nach Erikas Tod im Krankenhaus informierte mein Vater als engster nicht blutsverwandter Angehöriger das Sekretariat der Israelitischen Gemeinde Basel und die Chewra Kadischa, eine jüdische Bestattungsorganisation. Da Erika am Freitagabend verstarb, wurde ihre Überführung zum Friedhof wegen des Sabbats auf Samstagabend nach Sonnenuntergang terminiert. Die Überführung, die durch sieben männliche Angehörige der israelitischen Gemeinde, Mitglieder der Chewra Kadischa, durchgeführt werden musste, stand am Anfang des ganzen Beerdigungszeremoniells. Danach fand die Tahara, die rituelle Waschung, statt. Bei verstorbenen Frauen wird diese von Frauen der Gemeinde durchgeführt. Das Ritual umfasst Gebete, die Waschung und das Anziehen der Tachrichim, eines traditionellen Totengewands. Enge Angehörige können am Ende symbolisch mithelfen, indem sie der Verstorbenen die Totensocken anziehen. Laut Tradition erfolgt die Bestattung möglichst rasch, am besten einen Tag nach dem Tod. Aufgrund der Anreise von Verwandten aus Dänemark und England wurde sie bei Erika aber erst am Mittwoch, also fünf Tage nach dem Tod, vollzogen, was eher ungewöhnlich ist. 

Erika Zaig-Haupt wurde als Tochter der wohlhabenden jüdischen Eltern Eugen Haupt und Valerie Gottesmann am 4. Juni 1938 in Wien geboren. In einem gehobenen Wiener Viertel wuchs sie liebevoll umsorgt von ihren Eltern und der Grossfamilie auf. Doch mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland änderte sich alles. Die Familie versuchte nach Kolumbien zu fliehen, wo bereits ein Onkel lebte. Doch an der niederländischen Grenze wurden sie wegen dem J in ihren Pässen abgewiesen. Sie kehrten nach Wien zurück, wo sie den Repressionen der Nazis ausgeliefert waren.

Nach der Reichspogromnacht konnte eine Verwandte aus Basel mit Unterstützung des St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger helfen. So gelang der Familie an Silvester 1939 die Flucht in die Schweiz, wo sie vorerst als illegale Flüchtlinge registriert wurden. Sie fanden Unterschlupf bei einer Lehrerfamilie. Während einige Verwandte ebenfalls fliehen konnten, wurden die Grosseltern 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Der Grossvater wurde 1943 ermordet, die Grossmutter überlebte das KZ wie durch ein Wunder und fand später Zuflucht bei Erikas Familie.

Trotz der nun prekären Lage schafften es Erikas Eltern, ihr eine behütete Kindheit zu ermöglichen. Doch die Familie blieb staatenlos und erlangte erst 1955 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft. 1957 wanderte Erika nach Israel in ein Kibbuz aus, lebte später in den USA und kehrte 1963 in die Schweiz zurück. 1971 wurde sie als Freundin meiner Grossmutter Patin meines Vaters. So habe ich sie seit meiner Geburt als Teil unserer Familie kennen und schätzen gelernt. Doch auch ein bewegtes Leben nimmt irgendwann ein Ende, und so verstarb sie im Alter von 87 Jahren friedlich im Krankenhaus in Basel.

Auch wenn Erika seit vielen Jahren nicht mehr praktizierende Jüdin war, verband sie doch bis zuletzt eine Bande mit dem Judentum und mit dem Staat Israel. So bestimmte sie denn auch, dass sie sich nach jüdischem Ritus beerdigen lassen möchte. Am 4. Dezember versammeln wir uns deshalb auf dem israelitischen Friedhof in Basel. Die kargen Granitgrabsteine wirken kalt und abweisend; mich erinnern sie an das Leid der Verstorbenen. Blumen sucht man hier vergebens; stattdessen legen Angehörige der Verstorbenen Steine auf deren Grabsteine und Gräber. Dieser Brauch geht vermutlich auf die Flucht aus Ägypten zurück, als in der Wüste nur Sand und Steine verfügbar waren. Die Tradition betont dazu die Gleichheit im Tod und vor Gott, weshalb aufwändig gepflegte und geschmückte Gräber vermieden werden.

Die Zeremonie beginnt mit dem Eintreffen des Sargs in der Halle. Die Anwesenden stehen auf, und das Gebet Hazur oder Psalm 9 wird gesungen. Der hebräische Text hat eine fast meditative Wirkung auf mich. Der Rabbiner hält eine kurze Abschiedsrede auf Englisch – einerseits aus Rücksicht auf die Angehörigen aus England und Dänemark, andererseits weil er selbst diese Sprache am besten spricht. Der Fachkräftemangel bei den Geistlichen ist in der Israelitischen Gemeinde nicht weniger gross als in den christlichen. Anschliessend wird der Sarg zum Grab überführt. Die Männer gehen voraus, die Frauen folgen mit Abstand. Am Grab senken vier Männer den Sarg mit Seilen in die Erde. Jeder schaufelt dreimal Erde auf den Sarg, ein symbolischer Akt. Das Niederprasseln der Erde auf den einfachen, hölzernen Sarg tönt grob in meinen Ohren, und doch ist es irgendwie schön. Danach wird das Grab mit Hilfe einer Maschine vollständig geschlossen. Zum Abschluss spricht der nächste männliche Verwandte das Kaddisch, das Totengebet.

Nach rund zwanzig Minuten ist die schlichte Beerdigung zu Ende. Der Rabbiner läuft davon und wir stehen alle etwas perplex herum. Kaum jemand unter den Trauernden ist jüdischen Glaubens; und so sind wir etwas irritiert über die kurze Dauer der Abdankung. Beim Verlassen des Friedhofs waschen die Trauergäste dreimal die Hände, und es werden Spenden für die Gemeinschaft gesammelt. Genau elf Monate später wird die Setzung des Grabsteins stattfinden; erst dann ist die Trauerphase der Familie abgeschlossen.

Meine Weltsicht ist christlich geprägt, weshalb mich einige Aspekte der jüdischen Beerdigung erstaunt haben. Besonders auffällig war für mich, dass die eigentliche Trauerbekundung nicht während der Beerdigung stattfindet. Das Begräbnis selbst wirkte auf mich überraschend schlicht und eher unpersönlich. Es wurde kaum auf das Leben von Erika eingegangen. Ihr Lebenslauf wurde erst später beim Treffen der Angehörigen in einem Restaurant vorgelesen. Der Rabbiner sprach bei der Abdankung lediglich ein Gebet, und unmittelbar danach bewegte sich die Trauergemeinschaft zügig zum ausgehobenen Grab. Auch dort geschah alles sehr schnell und ohne eigentliche emotionale Elemente. Das hat mich etwas nachdenklich gemacht. Wo findet bei den Juden der Trauerprozess statt? Schliesslich ist das Trauern doch etwas zutiefst Menschliches und ein wichtiger Bestandteil des Abschieds.

Im Internet habe ich recherchiert und erfahren, dass im Judentum die Shiwa, eine siebentägige Trauerphase, zentral ist. In dieser Zeit bleibt die Familie zu Hause im sogenannten Trauerhaus und wird von Freunden und Nachbarn versorgt. Vermutlich wird in dieser Zeitspanne im engen und familiären Rahmen um die verstorbene Person getrauert.

Eine jüdische Beerdigung folgt einem klar strukturierten Ablauf, der in seiner Strenge kaum Spielraum für individuelle Anpassungen hat. Die meisten Elemente sind seit der Antike unverändert geblieben. Besonders die schnelle Bestattung kommt aus der Zeit, in der der Körper durch die Hitze schnell zu verwesen begann. Die schnelle Bestattung hatte damals also eine praktische Bedeutung. Diese Tradition wird bis heute aufrechter-halten. Auch das Verbot von Blumen geht auf diese Ursprünge zurück. Während es damals unter anderem hygienische Gründe hatte, respektive Blumen zum Teil gar nicht verfügbar waren, dient es heute eher der Betonung von Gleichheit und Bescheidenheit. Das sind Werte, die tief im jüdischen Glauben verwurzelt sind. Mir ist bewusst, dass solche Bräuche in unserer heutigen technologisierten Welt nicht mehr notwendig wären, da eine Kühlung eine spätere Bestattung problemlos möglich machen würde. Trotzdem sehe ich den Wert solch tief verwurzelter Traditionen. 

Gerade für religiöse Minderheiten wie das Judentum ist es von grosser Bedeutung, Traditionen zu bewahren. Das hilft, die eigene Identität und Kultur zu schützen, besonders in einer Welt, wo sich alle in Sozialen Medien bewegen und sich über alles jederzeit informieren können. So ist die Gefahr grösser, dass sich Glaubensrichtungen verwässern oder mit anderen vermischen. Allerdings kann diese Abgrenzung sehr schnell auch eine dunkle Seite haben, wenn sie zur Ausgrenzung und Inakzeptanz anderer Religionen oder zu einer Radikalisierung führt. Für Erika selbst, die einige Jahre in Israel lebte, war die Überzeugung wichtig, dass alle Menschen, unabhängig von Religion, Herkunft oder Weltanschauung, gleichwertig sind. Die aktuelle politische Situation zwischen Israel und Palästina beschäftigte, berührte und verärgert sie sehr. Für Erika war klar: "Ein Mensch bleibt ein Mensch, egal welche Ansichten er hat."

Unweigerlich fragt man sich, ob die Form der Beerdigung der verstorbenen Person gerecht wurde und ob sie ihr gefallen hätte. Wir haben Erika nie als besonders religiös wahrgenommen. Sie selbst bezeichnete sich zwar als Jüdin, war aber in den letzten Jahrzehnten nie mehr an einem Schabbat Gottesdienst oder hatte aktiv in der Jüdischen Gemeinde teilgenommen. Und doch war es für sie schon immer klar, dass sie jüdisch beerdigt werden wollte. Sie sagte uns immer, dann sei es erledigt und man müsse nicht mehr viel organisieren. Sie glaubte immer daran, dass es nach dem Tod wirklich fertig sei; ein Leben nach dem Tod gab es für sie nicht. Für sie war der Tod das definitive Ende. Viel wichtiger war ihr, das Leben auf dieser Welt in vollen Zügen zu geniessen und für die Lebenden da zu sein. Diese Haltung macht mich selbst nachdenklich: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Diese grosse Frage ist unbeantwortet und wird es wohl auch ewig bleiben, doch sie begleitet uns alle.

Bis heute fasziniert mich Erikas Lebensgeschichte. Sie war eine bemerkenswerte Frau, die mit ihrem Charme, Humor und ihrer unvergleichlichen Liebenswürdigkeit in jeder Lebensphase und an jedem neuen Ort ihren Platz fand. Ihre Stärke und ihre Offenheit für andere Menschen werden uns in lebendiger Erinnerung bleiben. 

Wir werden dich nie vergessen, Erika. Danke, dass wir Teil Deines bewegten Lebens sein durften.

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