Versammlung der Soka Gakkai

von Sophie Adler
Ich klingle an einer weissen Haustüre. Sie ist geschmückt mit einem kleinen Fähnchen in den Farben blau, gelb und rot, darauf eine feine, goldene Lotusblume. Es ist die Flagge der Soka Gakkai. Heute ist ein besonderer Tag. Zum einen wird der Gründungstag der Soka Gakkai gefeiert und zum anderen wird dem ersten Todestag des dritten Präsidenten, Daisaku Ikeda, gedacht. Die Feier findet im Bereich Juwel in der Region Bern statt. Deswegen bin ich auch mit meiner Mutter hier. Meine Mutter ist seit 28 Jahren selbst ein Mitglied und hat mich im buddhistischen Gedankengut grossgezogen, doch ich empfinde mich nicht als religiös und weiss nur wenig über diese Glaubensrichtung.
Die Soka Gakkai ist eine Religionsgemeinschaft, die auf dem Nichiren Buddhismus basiert. Im Wesentlichen gibt es zwei Unterschiedliche Richtungen im Buddhismus. Eine Richtung, bei der es darum geht, die eigene Erleuchtung zu erreichen. Die andere Richtung, zu der auch der Nichiren Buddhismus gehört, besagt jedoch das es unmöglich ist alleine glücklich zu sein und die Erleuchtung zu erreichen. Das eigene Glück ist mit dem Glück unsere Umgebung eng verwoben. Nichiren Daishonin war ein japanischer, buddhistischer Reformator und ist der Gründer des Nichiren Buddhismus dessen Ausübung aus einem morgendlichen und einem abendlichen Gongyo (japanisch für fleissige Ausübung), der Rezitation der beiden wichtigsten Kapitel im Lotos-Sutra besteht und dem sogenannten Chanten, der Wiederholung der Silben "Nam-Myoho-Renge-Kyo". Das Chanten wird auch als das Rezitieren von Daimoku bezeichnet und bildet die Hauptausübung in der Ausübung.
Die Soka Gakkai ist eine Laienorganisation, die den Nichiren Buddhismus international praktiziert, kurz SGI. Die Soka Gakkai Schweiz gehört zur SGI und unterteilt sich dann in verschiedene Bereiche. Einer dieser Bereiche ist der Bereich Juwel in Bern. Die SGI hat drei ewige Präsidenten, die sie als die drei Meister bezeichnet. Der dritte ewige Präsident, Daisaku Ikeda ist vor einem Jahr am 15. November 2023 gestorben. Er wird von den SGI-Mitgliedern "Sensei" genannt. Sensei bedeutet auf Japanisch Meister und Lehrer. Er war aber nicht nur Präsident, er war auch Autor und Philosoph. Er schrieb zahlreiche Bücher und führte viele Dialoge mit wichtigen Persönlichkeiten unserer Zeit, wie beispielsweise Nelson Mandela, Zhou Enlai, Michail Gorbatschow, etc. Sein grösstes Anliegen, war es den Frieden auf der Welt zu fördern, da er schon in jungen Jahren die Schrecken des Krieges mitansehen musste. Dieses Anliegen hat ihn zum Nichiren Buddhismus geführt und seither engagierte er sich im Namen der SGI für die Förderung von Frieden und Kultur in mehr als 193 Ländern.
Als Anerkennung für sein langjähriges Engagement wurde Ikeda mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter 1983 mit der Friedensmedaille der Vereinten Nationen sowie seit 1975 mit über 380 akademischen Auszeichnungen (davon über 120 Ehrendoktorwürden) von zahlreichen Universitäten, 26 Nationale Orden und 800 Ehrenbürgerschaften auf der ganzen Welt.
Die Tür öffnet sich und wir werden hineingebeten. Vor uns am Boden befinden sich lauter Schuhe und ich vernehme Stimmengewirr aus der Wohnung. Als ich eintrete, sehe ich viele Menschen, die mir wage bekannt vorkommen, denn früher hat mich meine Mutter oft an buddhistische Versammlungen mitgenommen. Viele haben mich schon lange nicht mehr gesehen und staunen darüber, wie gross ich geworden bin. Ich wandere etwas in der Wohnung herum und finde mich schlussendlich in einer offenen Küche wieder deren angrenzender Raum von Sitzreihen eingenommen wird. Ganz vorne steht ein einzelner Stuhl vor einer Kommode, dem Butsudan. Darin befindet sich ein kleines Schäftchen, das eine Schriftrolle, genannt Gohonzon, enthält. Der Gohonzon verkörpert die Essenz aller buddhistischen Lehren und wurde von Nichiren Daishonin in der Form eines Mandalas eingeschrieben. Es wird somit keine Buddhastatue angebetet, welche die Vorstellung des Lebens durch eine Personifizierung einengt. Der Gohonzon ist keine Gottheit ausserhalb des eigenen Lebens, sondern funktioniert wie ein Spiegel, um das eigene Leben zu betrachten.
Langsam sind alle eingetrudelt und suchen sich einen Platz. Masato, ein kleinerer Mann mit ergrautem Haar setzt sich auf den einzelnen Stuhl vor den Gohonzon. Er schlägt mit einem Stab an eine kleine Klangschale, die neben ihm steht. Der ganze Raum wird still und ich weiss, dass jetzt das Gongyo beginnt. Nach dem Gongyo steht meine Mutter als einzige auf, denn sie leitet die heutige Versammlung. Sie erklärt uns kurz den Ablauf: Als erstes wird Masato etwas zur Meister-Schüler- Beziehung erzählen, danach folgen Erfahrungen einzelner Mitglieder*innen im Zusammenhang mit Daisaku Ikeda und am Ende findet noch ein Apéro statt.
Eine dieser Erfahrungen hat mich ganz besonders berührt. Die meisten Erfahrungen der Mitglieder handeln vom ersten Treffen mit Sensei und Reisen nach Japan, doch Thierry, ein etwas älterer, grosser Mann, berichtet über seine Beziehung mit Sensei, obwohl er ihn noch nie getroffen hat.
Auf seinem Arbeitsweg mit dem Fahrrad führt er mit Sensei jeden Tag einen Dialog. Er sagt guten Morgen und dann erzählt er ihm, was er an diesem Tag vorhat. Er erzählt ihm alles, was ihn gerade beschäftigt, oder was ihn bedrückt oder auch, was im besonders Freude macht. Kurz vor dem Ziel durchquert er einen Tunnel, dort verabschiedet er sich von Sensei und wünscht ihm einen schönen Tag. In diesem täglichen, inneren Dialog mit seinem Lehrer stellt sich Thierry immer vor, was Sensei wohl an seiner Stelle bei einer Schwierigkeit tun würde, wie er die Situation angehen würde. Da Thierry bereits viel über den Nichiren Buddhismus studiert hat und Senseis Lebenskämpfe für den Frieden sehr gut kennt, ist der Gedanke an Sensei in seiner eigenen Lebenssituation ermutigend.
Ich habe durch Thierrys Erfahrung erkannt, dass es nicht wichtig ist, ob man seinen persönlich Meister/Lehrer trifft oder nicht, sondern dass man jemandem auch in seinen Schriften und durch seine Taten begegnen und so ganz persönlich kennenlernen kann. Ich fand seine Erfahrung besonders mutig, weil alle anderen, die eine Erfahrung teilten, Sensei tatsächlich begegnet sind, ausser Thierry. Aber der Effekt war der gleiche.
Nach den Erfahrungsberichten klatschen alle und stehen auf. Die Stühle werden weggeräumt und in der Mitte wird ein grosser Tisch aufgestellt. Alle helfen das Essen von der Küche auf den Tisch zu transportieren. Es gibt wahnsinnig viel unterschiedliches Essen, über Apéro bis hin zu Süssspeisen. Alle stehen in kleinen Grüppchen im Raum und lachen, essen und trinken gemeinsam. Ich verabschiede mich, den ich muss schon etwas früher los. Langsam ziehe ich meine Schuhe an und trete hinaus in das Treppenhaus. Hinter mir fällt die weisse Tür mit der kleinen blau-gelb-roten Flagge in Schloss.
Diese Versammlung war meine erste seit mehreren Jahren. Ich bin schon lange nicht mehr mit meiner Mutter mitgegangen. Früher als ich klein war, hat mich meine Mutter oft mitgenommen, da ich ja nicht alleine zu Hause bleiben konnte. Es gibt auch extra Anlässe für Kinder bis 12 Jahren. Beispielsweise das jährliche Löwenkindertreffen. Dann gibt es aber auch Anlässe für Jugendliche und junge Leute, die praktizieren und sich austauschen möchten. Ich habe an den Löwenkindertreffen teilgenommen bis zu meinem 10 Lebensjahr. Irgendwann bin ich aber nicht mehr hingegangen, da ich dort keine Freunde hatte, was vor allem daran lag, dass es nicht viele, bis keine Kinder in meinem Alter gab und ich auch niemanden hatte, mit dem ich mich richtig gut verstand. Als ich klein war, habe ich auch oft mit meiner Mutter zusammen gechantet. Ich hatte ein eigenes kleines Juzu, eine Gebetskette, die man während dem Chanten in den Händen hält.
Am Abend, wenn ich nicht schlafen konnte, ging ich oft ins Schlafzimmer meiner Eltern, wo der Butsudan meiner Mutter steht. Ich habe mich immer in ihr Bett gelegt, während sie gechantet hat. Hier habe ich mich immer sicher und geborgen gefühlt. Auf dem Butsudan brennen Kerzen und Räucherstäbchen, das kreierte eine sehr ruhige Atmosphäre. Durch das repetitive Chanten bin ich eingeschlafen. Ich denke dieses Gefühl bekomme ich auch heute noch, wenn ich Leute chanten höre. Als das Gongyo bei der Versammlung begann und die Leute anfingen zu chanten, überkam mich sofort etwas Nostalgisches, und ich fühlte mich an meine Kindheit erinnert.
Irgendwie hatte ich bis vor kurzem das Gefühl, das ich nicht religiös aufgezogen worden bin. Ich denke ich habe "religiös sein" oder "Religion" bis jetzt als einen zu engen Begriff angesehen. Ich wurde nie gezwungen an Ritualen oder Feiern teilzunehmen. Mir wurde immer die freie Wahl gelassen und das schätze ich im Nachhinein sehr, denn so konnte und kann ich selbst entscheiden, ob diese Religion für mich die Richtige ist. Zudem muss ich mich auch nicht erklären, falls ich etwas nicht machen möchte. Da mir diese Entscheidung auch heute noch selbst überlassen ist, gibt es in unserer Familie nicht Dinge, die man immer macht, sondern immer nur Dinge, die man wählen kann. Mit den Werten des Nichiren Buddhismus bin ich natürlich trotzdem aufgewachsen, was ich toll finde, denn diese Werte sind auch meine Werte.
Grundsätzlich finde ich den Nichiren Buddhismus toll, aber irgendwie habe ich bis jetzt nicht das Bedürfnis gehabt selbst zu praktizieren. Früher war es vielleicht auch eine Art "Rebellion" gegen meine Eltern, als Teenager hat man ja immer das Bedürfnis zu widersprechen und alles besser zu wissen. Heute habe ich einfach noch nicht die Zeit und den Raum in meinem Kopf gefunden, um eine Religion zu praktizieren. Aber ich denke das kommt vielleicht noch, wenn ich älter werde.