Das Unfassbare und Göttliche

Bild: Selma Irmer

Ich denke, dass sich jeder Mensch ab und zu sammeln muss, um zu überlegen, was für ihn im Leben wichtig ist. Heilige Orte zeigen mir dabei meinen Ort im Universum und reduzieren die Bedeutung meiner alltäglichen Probleme – sie bringen mich in Kontakt mit Gott.

von Selma Irmer

Ich heisse Renate Dienst, wohne in Bern, bin Anfang fünfzig und Pfarrerin der evangelisch-lutherischen Kirche in Bern. Wenn ich mich beschreiben müsste, so würde ich sagen, dass ich eine ruhige und überlegte Person bin, die nachdenkt, bevor sie etwas sagt. Die Meinungen, die ich habe, spreche ich aber stets aus. Wichtig ist es für mich, mit anderen Menschen zusammen zu sein, mich mit ihnen auszutauschen und auch Vertrauen zu ihnen aufzubauen.

Religion begleitet mich immer

Dadurch, dass ich Pfarrerin bin, ist Religion mein Beruf, daher kann ich Religion nicht vom Alltagsleben trennen. Religion ist in meinem Leben immer präsent, denn ich versuche, mich in meinem Handeln jederzeit von christlichen Lehren und Werten leiten zu lassen. Eine ethische Leitlinie, die ich von der christlichen Religion abgeleitet habe, ist beispielsweise, dass alle Menschen Kinder Gottes sind und dass kein Mensch mehr wert ist als ein anderer.

«Alle Menschen sind Kinder Gottes und kein Mensch ist mehr wert als ein anderer.»

Renate Dienst

Obwohl Religion mich immer begleitet, erlebe ich sie in Gemeinschaft anders, als wenn ich allein bin. Befinde ich mich zum Beispiel in der Kirche im Gottesdienst, also in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen, dann ist die Verbindung zur Religion stärker. Um meine Verbindung zur Religion aufzubauen, muss ich aber nicht zwingend in der Kirche sein. Was die Kirche vor allem besonders macht, sind die anderen Menschen, mit denen ich dort bin, und die spezielle Stimmung, die im Gottesdienst aufkommt.

Die heiligen Orte der anderen müssen geachtet werden

In meinem Leben war ich nicht nur in Kirchen, sondern auch an heiligen Orten anderer Religionen. Zum Beispiel habe ich schon mehrere Moscheen besucht und war in Jerusalem an der Klagemauer und im oberen Tempelbereich, der heute muslimisch ist. Ich bin aber nicht bis an die Klagemauer herangegangen, da diese für mich ein Ort ist, der vor allem den Juden gehört und nicht mir. Ich achte solche Orte, da sie für andere Religionen heilig sind, bin dort aber immer sehr zurückhaltend. Für mich sind diese Orte nicht heilig, da ich zu ihnen keine besondere Verbindung habe.

Die besondere Wirkung macht den heiligen Ort aus

Ich finde es sehr schwierig zu sagen, was einen heiligen Ort ausmacht. Ich bin mir bewusst, dass manche Leute das Wort in einem profanen Sinne verwenden, wenn sie sagen «Das ist mir heilig». Für mich ist das Wort «heilig» aber etwas durch Gott Herausgehobenes. Denn schon im christlichen Glaubensbekenntnis kommt das Wort mindestens zweimal vor; bei der «heiligen christlichen Kirche» und bei der «Gemeinschaft der Heiligen». Diese Heiligen sind für mich aber nicht Heilige wie vielleicht Mutter Teresa, sondern alle Menschen, die in diesem Moment gemeinsam das Glaubensbekenntnis sprechen. Denn diese sind in diesem Moment in dieser Gemeinschaft verbunden mit Gott. Ein heiliger Ort ist für mich demnach ein Ort, an dem Mensch und Gott aufeinandertreffen.

«Ein heiliger Ort ist ein Ort, an dem Mensch und Gott aufeinandertreffen.»

Renate Dienst

Ein heiliger Ort ist für mich der Klostergarten eines Klosters, welches sich in Deutschland befindet. Der Garten ist im Kreuz angelegt und in dessen Mitte befindet sich ein Brunnen. Dieser Garten ist für mich heilig, weil in der dort herrschenden Ruhe und im Wasser des Brunnens Gott und Mensch die Möglichkeit haben aufeinanderzutreffen und jeder dort zur Ruhe kommen und seinen Gedanken nachhängen kann.

In Bern und Umgebung habe ich keinen spezifischen Ort, aber es muss irgendwo sein, wo die Berge, Natur und eine unendliche Weite zu sehen sind, denn dort wird für mich das Unfassbare, das Göttliche sichtbar. Diese Sicht hat man beispielsweise vom Beginn der Kirchenfeldbrücke in Bern aus, wenn man auf die Berge blickt. Die Brücke geht vom Casino zum Helvetiaplatz und verbindet so die Berner Altstadt mit dem Kirchenfeldquartier am anderen Aareufer. Blickt man nach links, wenn man die Brücke vom Casino aus betritt, dann kann man bei guter Sicht die Bergkette der Berner Alpen erblicken.

So ein Ort macht mir deutlich, dass es Dinge gibt, die grösser sind als ich und es ist einfach unglaublich, dass sie da sind. Solche Orte zeigen mir auch, dass ich als Mensch ein Stück im grossen Ganzen des Universums bin und es Dinge gibt, die Menschen nicht erschaffen können. Auch an Orten, die von Menschen erschaffen wurden, wie zum Beispiel ein Garten mit einem Brunnen, kann so eine besondere Wirkung entstehen, die nicht von Menschen erschaffen werden kann.

Heilige Orte suche ich vor allem dann auf, wenn ich mich in Entscheidungssituationen, die über alltägliche Entscheidungen hinausgehen, befinde. Dann ist es für mich wichtig, zu meinem heiligen Ort zu gehen – entweder im Kopf oder physisch. In solchen Situationen bedeutet es mir aber ebenso viel, mit anderen Leuten zu reden und ihnen meine Gedanken mitzuteilen.

Heilige Orte sind auch zum Teilen da

Ein heiliger Ort gehört einem nicht allein und ich finde, dass man diesen auch mit anderen teilen kann. Warum sollte dieser Ort nicht auch für jemand anderen ein besonderer Ort sein können? Kann man einen bestimmten Ort mit jemandem teilen und sich darüber unterhalten, so kann dieser für einen noch schöner werden. Der Ort wird dadurch nicht besonderer, sondern es ist einfach anders, ob man allein an einem Ort ist oder in Gesellschaft anderer Menschen.

Ist man allein da, so kann man sich auf sich selbst und seine Gedanken fokussieren. Teilt man den Ort, so kann man sich über die Gefühle, die man dort empfindet, und die Gedanken, die einen beschäftigen, unterhalten. Den Klostergarten zum Beispiel, von dem ich vorher gesprochen habe, habe ich auch schon mit anderen Menschen geteilt, denn einen heiligen Ort nur für sich zu haben und ihn nicht zu teilen, ist für mich ein komischer Gedanke.

Es ist einfacher, an einem physischen Ort zur Ruhe zu kommen

Ich denke zwar nicht, dass man unbedingt einen physischen heiligen Ort braucht, man kann sich genauso gut einen in Erinnerung rufen. Es ist aber viel schöner, einen Ort zu haben, zu dem man hingehen kann, und es ist vermutlich auch leichter, dort zu sich zu kommen und die Ruhe zu finden, die man braucht.

Dabei finde ich es schwierig, einen heiligen Ort und einen Lieblingsort zu unterscheiden. Ich könnte sie vielleicht so unterscheiden, dass ein Lieblingsort ein Ort ist, der einen an seinen heiligen Ort erinnert, wodurch auch der Lieblingsort speziell herausgehoben wird. Wenn ich zum Beispiel in meinem Garten bin, dann erinnert mich dieser an den Klostergarten, von dem ich vorhin bereits gesprochen habe, wodurch auch mein Garten für mich zu einem speziellen Ort wird.

Generell denke ich schon, dass Menschen heilige Orte brauchen, um zu sich oder auch zu Gott zu kommen. Hat man einen heiligen Ort, so ist es einfacher, aus dem Alltag herauszukommen und sich bewusst zu machen, dass es noch andere Dinge als einen selbst in der Welt gibt und dass viele alltägliche Probleme, die einen stressen, letzten Endes nicht die Bedeutung haben, die wir ihnen manchmal beimessen.

«Hat man einen heiligen Ort, so ist es einfacher, aus dem Alltag herauszukommen und sich bewusst zu machen, dass es noch andere Dinge als einen selbst in der Welt gibt und dass viele alltägliche Probleme letzten Endes nicht die Bedeutung haben, die wir ihnen manchmal beimessen.»

Renate Dienst

Dabei finde ich, dass Kirchenräumen eine wichtige Rolle zukommt, denn diese sind sehr gut dazu geeignet, eben diesen Kontakt mit Gott und auch sich selbst herzustellen.

5 Antworten

  1. Valentina Ernst sagt:

    LIebe Selma,
    Dein Porträt finde ich sehr spannend, da ich, im Gegensatz zu deiner Protagonistin ein sehr anderes Weltbild habe. Auch meine Meinung,was für mich ein heiliger Ort ist, weicht von dem der Protagonistin ab. Mir gefällt, wie gut du und das Projekt als „Sprechrohr“ der Protagonistin dient. Besonders ist mir bei deinem Porträt in Erinnerung geblieben, dass die Protagonistin klar an den Zusammenhang zum heiligen Ort und der Religion verweist. Was mich noch interessieren würde, ist die Frage, in welchem Zusammenhang die Protagonistin in Jerusalem war und an ihrem heiligen Ort in Deutschland?
    Bleib gesund und bis bald, Valentina

  2. Alisha sagt:

    Liebe Selma

    Das Titelbild hat mich erst ein wenig überrascht. Ich habe mit etwas offensichtlich, im herkömmlichen Sinne Heiligem gerechnet. Doch beim Lesen des Porträts hat sich die Bedeutung dahinter geklärt und ich finde, diese Fotografie als Titelbild eine sehr schöne Wahl.
    Es hat mich beeindruckt, dass Renate Religion als etwas Omnipräsentes wahrnimmt, das aber durch Gemeinschaft verstärkt wird. Ich finde das einen sehr schönen Gedanken, der sich auch darin fortsetzt, dass sie heilige Ort gerne mit anderen Menschen teilt. Obwohl sie ihre heiligen Orte ganz klar als etwas von Gott Herausgehobenes bezeichnet, denke ich, dass sich diese Grundeinstellung des Teilens auf viele Aspekte des Lebens übertragen lässt und die Welt zu einem besseren Ort macht.
    Renate hat erwähnt, dass sie auch schon heilige Orte anderer Religionen besucht hat, und dass sie sich an diesen Orten respektvoll und zurückhaltend verhält. Was ich mich nun beschäftigt ist der immer und immer wiederkehrende „Konflikt“ zwischen Monotheismus und Toleranz. Natürlich kann man an einen Gott glauben und dabei tolerant gegenüber anderen Religionsgemeinschaften sein, dennoch stelle ich mir die Frage, welche Gedanken andere Glaubensrichtungen bei Renate auslösen.
    Als ganz klar heiligen Ort hat sie die Kirche genannt. So weit ich weiß, befindet sich die Gesellschaft in einem fortlaufenden Säkularisierungsprozess. Renates Beruf ist unzertrennbar mit der Religion und der Religionsgemeinschaft verknüpft. Nun frage ich mich, was sie von einem vermutlich stetigen Rückgang der Kirchenbesuchenden hält und wie sie in Zukunft damit umgehen will.
    Ich mag dein Porträt sehr und ich fand es interessant eine Sichtweise auf das Heilige kennenzulernen, die der meinen nicht entspricht.

    Liebe Grüsse
    Alisha

  3. Felizia Lienhard sagt:

    Liebe Selma

    Dein Porträt hat mich sehr berührt! Bisher habe ich fast nur solche gelesen, bei denen Religion eine eher geringe Rolle gespielt hat. Die interviewte Person hat ihre Gefühle und Gedanken sehr schön in Worte fassen können und hat zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Verbindung zu Gott gerne mit anderen teilt. Es hat mich dennoch sehr erstaunt, dass sie gesagt hat, ihr heiliger Ort gehöre nicht nur ihr. Es ist klar, dass man einen öffentlichen Ort nicht für sich alleine beanspruchen kann, dennoch hätte ich gedacht, dass dieser Ort so persönlich ist, dass man ihn gerade im Moment des Besuches mit niemandem teilen möchte. Ich finde es umso schöner, zeigt Renate Dienst mir das Gegenteil. Sie hat gesagt, dass ihr eigener Garten sie an ihren heiligen Ort erinnert und deshalb auch sehr wichtig für sie ist. Mich würde daher interessieren, was genau denn nun die beiden Orte unterscheidet und wieso ihr eigener Garten, obwohl dieser wahrscheinlich auch sehr viel Natur beinhaltet, für sie anscheinend trotzdem kein heiliger Ort ist.

    Alles Liebe, Feli

  4. Jeanne Schmid sagt:

    Liebe Selma

    Als ich das Titelbild deines Portraits gesehen habe, habe ich mir schon gedacht, dass deine Interviewpartnerin die Kirchenfeldbrücke wegen der schönen Aussicht so mag. Wir fahren wahrscheinlich alle sehr häufig über diese Brücke und ich persönlich werde dabei oft auch etwas nachdenklich. Es gibt dort eine gewisse geheimnisvolle Stimmung und den Gedanken, dass jeder Mensch nur ein kleiner Teil des gesamten Universums ist, finde ich sehr interessant.
    Was mich erstaunt hat, war, dass Renate Dienst ihren heiligen Ort nicht unbedingt für sich selbst behalten will. Ich finde heilige Orte etwas sehr persönliches und für mich macht ein heiliger Ort auch etwas aus, dass man dort für sich alleine entspannen, sich sammeln und neue Energie tanken kann. Ich fand es sehr spannend über eine neue Sichtweise zu lesen und dass der Ort für Renate Dienst noch besonderer wird, wenn sie ihn teilen kann.
    Da sie ja sehr religiös geprägt und sich ihr heiliger Ort auch sehr stark auf die Religion bezieht, habe ich mich gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, einen heiligen Ort zu haben, der nichts mit Gott oder ihrer Religion zu tun hat.
    Liebe Grüsse, Jeanne

  5. Stella sagt:

    Liebe Selma

    Auch mich hat das Foto neugierig gemacht. Ich finde Renates Definition von „heiliger Ort“ sehr spannend und der Gedanke des Teilen eines solchen Ortes empfinde ich als sehr schön.
    Wie Renate sagt, ist es wichtig einen Ort zu haben, zu dem man hingehen kann um zur Ruhe zu kommen. Und dabei spielt es keine Rolle ob man gläubig ist oder nicht.
    Bei solchen Orten kann man gut über sich selbst und die Welt nachdenken, was wichtig ist, um unter anderem der eigenen privilegierten Lebenslage bewusst zu werden.
    Eine Frage, die ich Renate gerne stellen würde, wäre, ob sie nicht auch manchmal den heiligen Ort für sich alleine braucht, um ihre Ruhe finden zu können.

    Liebe Grüsse
    Stella

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