Der heilige Ort in meinem Garten

Bild: Anna Lenzin

Obwohl ich in meinem Alltag durch den Beruf als Pharmazeutin stark naturwissenschaftlich geprägt bin, ist mir der Glaube sehr wichtig. So auch bei meinem heiligen Ort, der Grabstätte meiner Mutter. Er bietet mir die Möglichkeit, in ein tieferes Bewusstsein einzukehren.

VON ANNA LENZIN

Ich habe den Beruf als Pharmazeutin gewählt, um Gutes zu tun und die Welt verändern zu können. Jedoch war ich zu diesen Zeiten noch naiv in dieser Hinsicht. Die positive Grundeinstellung habe ich aber behalten. Ich gehe zufrieden und ausgeglichen durch den Alltag.

Seit dem Studium habe ich mich auch in religiöser Hinsicht verändert. Ich bin in der christlichen Tradition aufgewachsen und habe in meiner Jugend die religiösen Schritte mitgemacht, z. B. die Firmung oder die Besuche in der Kirche. Danach war jedoch die Religion nicht immer wichtig für mich. Glaube und Spiritualität hatten während des Studiums keinen Wert für mich.

«Je älter ich werde, desto wichtigere Rollen spielen diese beiden Themen in meinem Leben.»

Erst als ich dann eine Familie gegründet habe, wurde die Religion wichtiger für mich. Noch mehr Einfluss auf meine persönliche Religiosität hatte der Tod meiner Mutter, was mich zu meinem heiligen Ort führt. Nachdem meine Mutter gestorben ist, wurde für sie eine Grabstätte in Thun auf dem Schorenfriedhof eingerichtet. Ich war 28 Jahre alt und hatte ein sehr inniges Verhältnis zu meiner Mutter. Ihre Meinung war mir stets wichtig und sie war ein Vorbild für mich. Ihre Grabstätte auf dem Friedhof wurde für mich zu meinem heiligen Ort, da ich sie dort besuchen konnte. Ich konnte mit ihr im Zwiegespräch sein und ihr von meinen Anliegen erzählen. Ich würde nicht sagen, dass ich sie direkt spüren konnte, wenn ich dort war, jedoch war ich ihr nahe. So wurde der Ort sehr wichtig für mich.

Wie schon erwähnt war ich beim Tod meiner Mutter noch sehr jung. Nun bin ich 52 Jahre alt. Ein Grab kann nicht auf längere Zeit auf Friedhöfen bleiben, nach 20 Jahren wurde das Grab meiner Mutter aufgehoben. Ich war schockiert und stellte einen Antrag beim Friedhof, den Grabstein und die Urne verlegen zu dürfen.

Bild: Anna Lenzin

Der Umzug war recht abenteuerlich, weil mein Partner und ich die Illusion hatten, den Stein einfach in einem gemieteten Transportauto von Thun nach Bern zügeln zu können. Aber schon nur das Aufladen auf dem Friedhof benötigte die Hilfe von drei Friedhofmitarbeitern. In Bern kamen wir in Zeitnot wegen der Rückgabefrist des Autos. In dieser Notlage half uns ein Steinmetz, den Stein bei ihm zwischenzulagern. Ein paar Tage später half er uns, den tonnenschweren Grabstein zu heben und ihn zu platzieren, da er Freude hatte an unserem Wunsch, einen Grabstein noch zu behalten. Nun steht der Grabstein meiner Mutter in meinem Garten. Er hat einen schönen und passenden Ort, umgeben von Büschen mit Blüten und Efeu. Ich habe den Ort aber so gewählt, dass man ihn nicht prominent sieht, denn es ist schon etwas komisch, einen Grabstein im Garten zu haben.

Ob auf dem Friedhof oder in meinem Garten; an emotionalen Wert hat die Grabstätte nicht verloren. Es ist auch noch heute mein heiliger Ort. Ich kann einerseits meine Mutter besuchen, andererseits gibt der Ort mir die Möglichkeit, in mich zu kehren.

«Ein heiliger Ort ist für mich wie ein Katalysator für ein tieferes Bewusstsein.»

Meiner Meinung nach ist eine heilige Stätte ein Ort, der mir den Zugang zu einem oder zu dem Jenseits gewährt, in ein anders Bewusstsein. Man sollte in sich gehen können an diesem Ort. Für mich persönlich hat das schon etwas mit Religion zu tun. Hinter meinem heiligen Ort steckt als religiöser Aspekt die Tradition des Begräbnisses im Christentum. Und der Besuch dieses Ortes bringt mich meiner religiösen Gesinnung näher. Ich bin nicht nur im Zwiegespräch mit meiner Mutter, sondern ich komme auch Gott näher an diesem Ort.

«Die Vernunft hindert mich nicht daran, an Gott zu glauben.»

Für mich gibt es eine höhere Macht und eine mit naturwissenschaftlichen Begriffen nicht erfassbare göttliche Dimension. Obwohl ich in meinem Alltag sehr viel mit der Naturwissenschaft zu tun habe, die einigen Vorstellungen des Christentums widerspricht, ist mir der Glaube sehr wichtig, so auch an meinem heiligen Ort.

Ich war auch schon an vielen heiligen Orten von verschiedenen Religionen, zum Beispiel in der Blauen Moschee in Istanbul oder in einem buddhistischen Tempel in Thailand. Ich habe diese Besuche sehr genossen und mit Respekt wahrgenommen, welche Bedeutung diese Orte für andere haben. Ich kann gut nachvollziehen, dass für jemanden eine öffentliche religiöse Stätte ein heiliger Ort sein kann. Auch ich habe einmal so etwas erlebt im Vatikan, als ich bei einer Messe des Papstes teilgenommen habe. Das war für mich ein sehr besonderes Erlebnis und ich habe mich sehr wohl gefühlt mit all den Menschen, es war eine sehr angenehme Atmosphäre. Dieses tiefe Gefühl der Freude werde ich nie vergessen. Jedoch schätze ich an meinem heiligen Ort, dass er privater und persönlicher ist. Ich kann hingehen, wann ich will, vielleicht wenn ich Sorgen habe, und kann mich gut besinnen.

«Gefühle sind wichtiger als Orte.»

An meinem heiligen Ort bin ich voll und ganz in meine Gedanken versunken. Ich komme in einen anderen Bewusstseinszustand. Jedoch würde ich meinen heiligen Ort nicht mit besonderen Erlebnissen assoziieren. Es sind mehr Gefühle und Emotionen, die meine aussergewöhnlichsten Erlebnisse aus meinem Leben ausmachen. Dabei sind die Geburten meiner beiden Kinder auf jeden Fall am unglaublichsten. Ein Leben zu schenken, ist etwas Wundervolles. Aber auch das Gefühl des Verliebtseins ist eine Empfindung, die man nicht mehr vergisst. Ich kann mich an die einigen Male in meinem Leben sehr gut erinnern.

Bild: Anna Lenzin

Wenn aber die Leidenschaften einer Person an einen Ort gebunden sind, zum Beispiel ein Tanzstudio oder ein Fussballplatz, dann können die aussergewöhnlichen Erlebnisse im Leben sicherlich auch an einen spezifischen Ort gebunden sein. Obwohl ich für mich den Begriff «heiliger Ort» religiös interpretiere, kann ich sehr gut nachvollziehen, wenn dieser Ort nichts mit der Religion zu tun hat. Man braucht einen Ort, wo die eigenen Leidenschaften liegen und wo man vielleicht eine aussergewöhnliche Aktivität ausüben kann. Man sollte seine eigenen Rituale und Gewohnheiten ausführen können. Mein heiliger Ort ist für mich ein Fenster in ein tieferes Bewusstsein und so auch eine Möglichkeit, vom Alltag zu entfliehen, obwohl der Ort in meinem Fall in meinem eigenen Garten ist.

4 Antworten

  1. Selma Irmer sagt:

    Liebe Anna

    Dein Porträt war sehr spannend und hat auf jeden Fall einen sehr ungewöhnlichen heiligen Ort gezeigt. Deine Fotos strahlen eine sehr friedliche und ruhige Stimmung aus und ich denke, dass diese sehr gut zum Ort passt. Insbesondere das letzte Foto zeigt für mich die Atmosphäre, die deine Interviewpartnerin beschrieben hat, sehr gut. Ich finde es ist dir sehr gelungen, aufzuzeigen, was deine Interviewpartnerin empfindet, wenn sie sich an diesem heiligen Ort befindet.
    Ich habe mir folgende Fragen gestellt: Warum wurde die Religion erst nach dem Tod der Mutter wirklich wichtig? Ist dieser Ort nur für deine Interviewpartnerin heilig oder teilt sie diesen mit ihrer restlichen Familie?

    Liebe Grüsse, Selma

  2. joy Messerli sagt:

    Liebe Anna
    Ich habe mich sehr gefreut dein Portät zu lesen. Es ist natürlich eine spanndende, aussergewöhnliche doch auch sehr schöne Geschichtedoch. Es hat etwas sehr liebevolles und friedliches und dies vermittelt as Portät wirklich sehr schön. Die Fotos sind gut gewählt und unterstreichen diese ruhige und schöne Stimmung. Deine Interview-Partnerin wirkt ebenfalls sehr liebevoll wie auch witzig und geistreich. Ich wollte noch fragen, ob der Interview-Partnerin ihre eigene Grabstätte auch so ein wichtiges und heiliges Anliegen ist oder sie dies der Familie überlässt? Und wenn sie nie Nähe und das Gespräch mit ihrer Mutter sucht, ob dies für sie ein Gebet ist oder eben einfach ein Gespräch?
    Danke vielmals für das tolle Portät, liebe Grüsse
    Joy

  3. Elia sagt:

    Liebe Anna
    Das Porträt gefällt mir sehr gut. Ich habe noch nie von einer Person gehört, die einen Grabstein bei sich im Garten hat, doch dies ist für mich eine sehr schöne Vorstellung. Irgendwie wirkt das Ganze viel persönlicher als bei einem Grab, das sich auf einem Friedhof neben hunderten anderen Gräbern befindet. Ich glaube auch, dass die verstorbene Mutter Freude an ihrem heutigen Platz hätte. Obwohl die Thematik schon angesprochen wurde, ergab sich bei mir noch folgende Frage: Wie bewältigt deine Interviewpartnerin den Spagat zwischen Glaube und Wissenschaft, die sich in ihrem Leben bestimmt in die Quere kommen?
    Liebe Grüsse
    Elia

  4. Zhiqing sagt:

    Liebe Anna,

    das Porträt war sehr schön zum Lesen, es wird einem bewusst, wie viel dieser Ort der interviewten Person bedeutet. Du hast die Emotionen toll rübergebracht.
    Bereits als ich das Bild gesehen habe, dachte ich, dass der heilige Ort dieser Person gebunden ist an einen anderen Menschen. Ich finde es jeweils berührend zu lesen, wie Menschen „heilig“ auch an andere Menschen binden und nicht zwingend der Ort selber das „Heilig-Sein“ ausmacht.
    Das Foto strahlt auch Ruhe aus, es sieht sehr friedlich aus und ich kann mir gut vorstellen, wie das Kraft geben kann. Es zeigt, dass heilige Orte wirklich privat sein können und jeder Mensch individuell einen wichtigen Ort hat für sich.

    Ich habe mich während dem Lesen gefragt, ob die Grabstätte im Garten an Wert dazu gewonnen hat, da es dort persönlicher und privater ist als auf einem Friedhof?
    Und weshalb war die eigene Familie der Auslöser zur persönlichen Religiösität?

    Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.
    Liebe Grüsse
    Zhiqing

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