Eine Atheistin und ihr heiliger Ort

Bild: Lorenz Schumacher und Matthieu Meier

Ich bin ohne Religion aufgewachsen und eine Atheistin. Trotzdem ist es für mich möglich, einen Ort als heilig zu bezeichnen. Heiligkeit hat nicht zwingend etwas mit Glauben zu tun, sondern mehr mit der persönlichen Verbundenheit. So ist für mich mein heiliger Ort kein Gotteshaus, sondern eine Sitzbank im Grünen.

VON LORENZ SCHUMACHER UND MATTHIEU MEIER

«Mir wurde gesagt, dass ich es nicht schaffen kann, trotzdem habe ich immer an mich geglaubt und meine Ziele erreicht, auch ohne höhere Kraft.»

Ich bin gerade 18 Jahre alt geworden und komme aus Muri bei Bern. Ich bin das jüngste von vier Geschwistern und lebe zurzeit bei meiner Mutter. Momentan bin ich im zweiten Jahr meiner KV-Lehre bei einer Versicherung.

In meinem Leben spielt Religion kaum eine Rolle; ich bin weder getauft noch konfirmiert oder sonst etwas in der Art. Ich bin überzeugte Atheistin und glaube an die Wissenschaft. Natürlich gibt es Dinge, die nicht erklärbar sind, zum Beispiel Ausserirdische, die uns vielleicht schon mal beobachtet haben, oder Zeichen des Universums. Aber ich glaube nicht, dass eine höhere Macht existiert, die mich und mein Handeln beeinflusst. Eine spirituelle Erfahrung wie das Spüren einer höheren Macht habe ich noch nie erlebt.

«Ich hatte auch nie das Gefühl, eine treibende Kraft hinter mir zu haben; ich habe meine Ziele durch mein eigenes Handeln erreicht.»

Heiligkeit ist subjektiv

Heilige Orte wie Kirchen oder Kathedralen habe ich schon besucht, zum Beispiel an Beerdigungen oder Hochzeiten, aber ich habe mich nicht speziell anders gefühlt, als ich diese Orte betreten habe. Die Architektur und die Einrichtung finde ich sehr schön und faszinierend. Es ist also einfach ein schöner Ort ohne spirituelle Atmosphäre Für mich kann Spiritualität nicht durch einen bestimmten Ort hervorgerufen werden, sondern es ist mehr ein inneres Gefühl und die Verbundenheit zur Natur. Der Ort verstärkt dieses nur.

Hingegen bei einem klaren Nachthimmel mit Blick in die Sterne oder beim Sonnenuntergang mache ich mir schon Gedanken über unser Dasein und die Tiefen des Universums. Diese Unwissenheit darüber beunruhigt mich teilweise schon. Ich denke, jeder geht anders mit diesem Gefühl um; einige suchen die Antworten in der Wissenschaft, andere in der Religion und an für sie heiligen Orten. Für beides habe ich vollstes Verständnis, auch wenn ich nicht daran glaube, dass ein Ort einfach so heilig ist, sondern mehr, dass er durch den vereinten Glauben von vielen zu etwas Heiligem wird. Ich kann einen Ort auch nicht einfach so als «heilig» bezeichnen. 

«Wenn ich in der Nacht bei klarem Himmel die Sterne sehe, beginne ich, über das Universum und die Zukunft nachzudenken.»

Zwischen Leben und Tod

Für mich ist diese Sitzbank einfach ein sehr schöner Ort, an dem ich mich wohl fühle. Sie befindet sich etwa zehn Minuten von der Tramstation Muri entfernt in Richtung Kräyigen. Läuft man die Thunstrasse entlang, muss man nach dem Feld neben der Dorfkirche links abbiegen und einen Hügel in Richtung Friedhof hinaufgehen. Sobald man oben ist, sieht man die Bank kurz vor einem kleinen Wald mit Blickrichtung auf den Gurten. Als ich das erste Mal hier war, sah ich, wie die Sonne über Bern unterging: Das hat mich sehr berührt.

Mein Gefühl an diesem Ort ist allerdings nicht immer das gleiche. Es kommt darauf an, ob ich alleine oder in Begleitung hierherkomme. Bin ich alleine, höre ich gerne meine Musik, bewundere den Sonnenuntergang und denke über vieles nach. Dies macht mich, auch wenn ich mal einen schlechten Tag hatte, sehr glücklich. Wenn ich mit Freunden hier bin, geniesse ich vor allem die Gesellschaft und schätze es, dass ich hier und jetzt mit ihnen Zeit verbringen kann.

«Man sitzt hier neben dem Tor zum Friedhof, das in gewisser Weise die Abgrenzung vom Tod zum Leben darstellt.»

Das Besondere an diesem Ort ist nämlich, dass er direkt neben dem Eingang zu einem Friedhof liegt. Also auch an der Grenze zwischen dem Leben und dem Tod. Ich verspüre immer ein grosses Gefühl der Dankbarkeit, wenn ich hier bin, vor allem gerade wegen dieser Nähe zum Endlichen. Der Sonnenuntergang unterstreicht dieses Empfinden, da ein Tag endet und den Weg für einen neuen ebnet. Früher stand hier auf dem Hügel gleich neben meiner Sitzbank auch noch eine grosse, mächtige Eiche, die im Sommer einen kühlen Schatten auf das Plätzchen warf. Leider steht heute nur noch der abgebrannte Stamm dieses uralten Lebewesens.

Vor allem die Aussicht über Bern und an den Gurten ist unbezahlbar und hilft mir beim Abschalten vom Alltag. Ich komme meistens hierhin, wenn ich über bestimmte Sachen nachdenken oder einfach gerade mal nicht zu Hause sein will. Damit dieser besondere Ort erhalten bleibt, achte ich darauf, nichts zu beschmutzen oder zu zerstören und den grösstmöglichen Respekt zu zeigen. Auch die Natur, also die Felder und der kleine Wald, verdienen den sorgfältigen Umgang. Wenn dies nicht eingehalten wird, befürchte ich, dass die Entfernung der Bank die Folge wäre. Das würde mich sehr treffen, denn dieser Ort sollte noch lange erhalten werden. Daher verhalte ich mich hier sehr ruhig, geniesse die Aussicht, die Natur und eben den Sonnenuntergang. Ab und zu rauche ich hier auch einen Joint. Alles in allem fühle ich mich hier einfach wohl und geborgen.

Ruhe und Geborgenheit

Ich denke, dass es sehr wichtig ist, einen solchen Ort zu haben, an dem man sich geborgen fühlt, auch wenn das nicht die eigenen vier Wände sind. Für manche mag es die Kirche sein, für andere eine Sportanlage, oder wie in meinem Fall ein Ort, weit weg vom Lärm und der Hektik der Stadt, irgendwo in der Natur. Dieser Gegensatz und die Vermeidung von Stress macht für mich diesen Ort so besonders. Dies ist, so denke ich, auch das, was sich alle Menschen von ihrem heiligen Ort erhoffen. Denn jeder Mensch braucht diesen Ausgleich; sich mit sich selbst und seinen Gedanken zu befassen und so für einen Moment dem Druck der Gesellschaft zu entkommen.

2 Antworten

  1. Felizia Lienhard sagt:

    Lieber Lorenz, lieber Matthieu

    Als ich euer Porträt gelesen habe, konnte ich mich sehr gut in die Situation der interviewten Person hineinversetzten. Durch die anschauliche Beschreibung und das Bild ihres heiligen Ortes, konnte ich diesen wirklich spüren. Ich kann mir gut vorstellen, dass man an diesem Ort, an Waldesgrenze und mit Blick auf Bern und den Gurten, gut abschalten sowie mit seinen Gedanken allein sein kann. Was mir besonders ins Auge gefallen ist, ist dass die Interviewte Person an diesem Ort, gerne mal über „unser Dasein und die Tiefen des Universums“ nachdenkt. Ich finde es sehr spannend, wie Menschen mit offenen Fragen, bezüglich diesen Themen umgehen und sehe, dass auch eine Person, die ganz und gar an die Wissenschaft glaubt, hier so mal an ihre Grenzen stösst.
    Es wurde erwähnt, dass der Ort sich neben einem Friedhof befindet, wobei ich mich frage, ob diese doch meist etwas traurige und vielleicht auch unheimliche Atmosphäre, welche vom Friedhof ausgeht, einen nicht beeinflusst, und wenn ja, in welchem Sinne?

    Alles Liebe, Feli

  2. Hana sagt:

    Lieber Lorenz
    Lieber Matthieu

    Beim betrachten des Bildes könnte man sich denken, dass es sich um eine simple Bank an einem Feldrand handelt. Dies tut es ja schliesslich auch. Aber für die porträtierte Person scheint die Bank eine grosse Bedeutung zu haben. Was ich spannend finde ist, dass die Person trotz atheistischen Glaubens und Erwähnungen, dass ein heiliger Ort nicht unbedingt etwas mit Glauben zu tun hat, extrem viele Parallelen zur Religion geschaffen werden. Die Ironie ist, dass die Bank sich zusätzlich noch neben einem Friedhof befindet. Spannend sind ebenfalls die Gedanken um das Universum und den noch offenen Fragen.
    Was mich noch wunder nehmen würde ist, ob die porträtierte Person sich am liebsten mit Freunden oder doch alleine an ihrem heiligen Ort aufhält und was dies für einen Unterschied macht?

    Tolles Porträt! – Hana

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