Mein Atelier ist ein Durcheinander

Bild: Lou Sommer und Mira Degelo

Ein Hauptraum, ein schmaler Gang und ein kleines Bad. Die Wände sind mit Farbe bespritzt und überall hängt Kunst. Hunderte von Büchern, eine Posaune sowie Vinylplatten. Hier kann sich Neues ereignen, das mich noch mehr interessiert als Form oder Musik. Das ist mein heiliger Ort. Mein Atelier, in der Aumatt.

VON LOU SOMMER UND MIRA DEGELO

Ich bin Bruno, 58 Jahre alt, freischaffender Künstler und Leiter der neuen Schule für Gestaltung Bern. Hinterkappelen, in der Gemeinde Wohlen bei Bern darf ich meinen Wohnort nennen. Ich bin 1.85 m gross, habe Schuhgrösse 43 und Blutgruppe B+, dazu bin ich schön, belesen und verheiratet. Bildhauer, Fotograf, Religionspädagoge – das sind meine Lehrabschlüsse. Seit 35 Jahren arbeite ich in meinem Atelier, an meinem heiligen Ort.

Religion und Glaube spielen eine zentrale Rolle in meinem Leben. Ich habe schon sehr viel Kirchenarchitektur erlebt und gehe die auch regelmässig besuchen.

Es ist ganz unterschiedlich, wie ich mich an diesen heiligen Orten fühle. Manchmal fühle ich mich wohl, vor allem wenn ich alleine bin, und manchmal gar nicht, weil es viel zu viele Leute hat und zu reger Betrieb herrscht.

«Es ist etwas Ekstatisches, dass man von etwas berührt wird und eine Arbeit weiterführen kann, ohne dass ich dir in diesem Moment sagen kann weshalb.»

Bruno

Am liebsten habe ich romanische Orte, romanische Kirchen, in denen niemand ist. In Málaga, in Südspanien bin ich mit maurischer, islamischer Architektur in Kontakt gekommen und in Palermo, Sizilien ebenfalls. Die roten Kuppelbauten haben mir daran besonders gefallen. In den Gebäuden ist es aber fast genau gleich, ob es jetzt muslimisch oder so genannt christlich ist. Steine, Räume, Licht – fertig. Der Unterschied ist nicht gross. Das hat mich sehr fasziniert.

Mit dem Judentum bin ich bis jetzt nur durch Synagogen in Kontakt gekommen. In Berlin und in Deutschland allgemein. Dort war es ähnlich.

Religion ist eine Form des Auslebens einer Art Geheimnis

Eine spannende Frage ist, was genau mit Transzendenz, Religion, Glaube und dem Göttlichen gemeint ist. Das Göttliche ist eine schwierige Komponente, zu welcher viel gehört. Transzendenz auch. Was heisst denn genau «Transzendenz»? Oder auch das Religiöse – also Religion ist eine Form des Auslebens einer Art Geheimnis. Ein Geheimnis, das ich nicht selbst ergreifen kann.

Religion interessiert mich eigentlich nicht. Mich interessiert das «Sich-Ereignen» von dem, was ich nicht im Griff habe. Dass sich etwas manifestiert, zum Beispiel in meiner Arbeit, und mit mehr zu tun hat als nur mit mir selbst. Deshalb brauche ich auch einen heiligen Ort; mein Atelier, wo ich nicht gestört werde, weder von meinen Kindern noch von sonst irgendjemandem.

Meine Arbeit ist etwas sehr Konzentriertes, das ich nicht im Griff habe, was super ist. Wenn sich etwas ereignet, bin ich zufrieden, und wenn nicht, ist es auch gut.

Religion als Form interessiert mich nicht, sondern die Fragen nach den letzten Dingen

Der Unterschied zwischen Religion oder Glaube und einem heiligen Ort ist, dass Religion eine Form braucht, wie eine Kirche oder eine Mosche, oder früher Opferaltäre. Das sind Formen davon. Ein heiliger Ort hingegen braucht keine konkrete Form. Er ist von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich und kann zum Beispiel auch nur in der Fantasie existieren.

Wichtig zu sagen ist auch noch, dass mich Religion nicht als Form interessiert, sondern als Frage nach den letzten Dingen: Die sogenannte Eschatologie – die Lehre der letzten Dinge. Mich interessiert, was am Schluss noch da ist.

In meiner Kunst ist es nicht so, dass ich dem «Sich-Ereignen» näherkomme, sondern dass es mir näherkommt. Es ereignet sich von ausserhalb. Ich kann es nicht steuern. Ich kann nicht sagen: Zuerst muss ich vier Vaterunser beten und danach vierzehn Rosenkränze und dann passiert es. Es ist ein metaphysischer Aspekt. Etwas, das ausserhalb von mir ist, das sich aber anscheinend an verschiedenen Orten auf dieser Welt wieder ereignen kann.

Für mich ist klar; mein Atelier ist ein solcher Ort und deshalb lasse ich auch nur die Leute herein, die ich will, und das sind wenige.

Linie, Fläche, Form und Volumen. Das ist das, was mich interessiert

An meinem heiligen Ort ist ein grosses Durcheinander. Das brauche ich. Wenn ich ins Atelier komme, weiss ich noch nicht, was ich mache. Es ist nicht so, dass ich mir im Kopf etwas ausdenke, ins Atelier komme und dann mache ich es so.

Durch den Müll, der hier rumliegt, oder die Farben sehe ich etwas oder es ereignet sich etwas, damit ich dann beginnen kann zu arbeiten.

Bild: Lou Sommer und Mira Degelo

Drei Linien, drei Risse, drei Verletzungen oder drei Durchblicke? Diese Frage interessiert mich dann gar nicht. Die haben sich einfach ergeben, und gestern hat sich noch was anderes ergeben, was ich auch sehr spannend fand. Das ist eine Linie, die sehr unscharf wirkt. Und die korrespondiert mit den drei Rissen, merke ich. Aber das habe ich erst gestern gemerkt, nachdem ich vier Stunden hier gewesen war vorher nicht. Also Linie, Fläche, Form und Volumen. Das ist das, was mich interessiert. An dieser Arbeit war ich jetzt zwei Jahre und jetzt habe ich das Gefühl, dass sie stimmt.

Wir sind so oberflächlich mit unserem Konsumverhalten

Ich glaube, dass wir alle, unabhängig von der Herkunft unserer Rituale, auf der Suche sind nach etwas, das mehr ist als nur wir selbst. Schlussendlich geht es immer darum, wo der Mensch etwas erleben kann, das über eine Endlichkeit hinaus geht. Manche haben das in der Natur, das funktioniert bei mir gar nicht. Die Natur ist für mich ein Schöpfungsteil, der dann irgendeinmal auch nicht mehr existiert. Aber ich glaube, dass das unsere Sehnsucht ist, nach dem Ganzen, dem Göttlichen, nach Geborgenheit. Das ist das, was uns treibt, heilige Orte zu suchen.

Ich glaube nicht, dass alle einen heiligen Ort haben. Sie hätten es vielleicht gerne, aber wir sind so oberflächlich mit unserem Konsumverhalten, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, einen heiligen Ort zu haben; das wird vom Konsum überdeckt. Ich kann da nicht für alle sprechen, aber ich kenne viele Leute, die in der Kunst oder Literatur arbeiten, die einen heilige Ort haben und auch ganz stark brauche. Es kann sich sonst gar nichts Neues ereignen. Ich kann nicht im grössten Durcheinander im Loeb sein, da passiert nichts, das kann nicht sein. Also das Zurückziehen gehört ein Stück weit auch dazu, um Neues zu entdecken, und zwar wirklich Neues und nicht etwas, was es schon gibt. Eine neue Form zu finden.

«Wenn es sich ereignet, dass eine Arbeit sehr gut wird, dann ist das einfach das Höchste der Gefühle. Wenn sich das ereignet, dann ist es eine Art Ekstase.»

Bruno

An meinem heiligen Ort fühle ich mich ganz, also ganzer! Ich kann ins Material eintauchen und bin erstmals nicht mehr mit den Fragen beschäftigt, die ich mir in der Aussenwelt stelle.

Ich bin nicht glücklicher oder unglücklicher wegen meinem heiligen Ort – das ist schwankend. Es braucht etwas, das uns anstösst, damit etwas passiert. Sonst brauche ich das nicht. Sonst brauche ich keinen heiligen Ort. Im Paradies muss ich nicht vom Paradies träumen. Dieses Schwankende ist das, was für viele schwer nachzuvollziehen ist.

Bild: Lou Sommer und Mira Degelo

3 Antworten

  1. Liv sagt:

    Hallo Lou und Mira,
    Euer Porträt gefällt mir ausgesprochen gut, vielleicht auch, weil mir bei der Beschreibung des Raumes gerade sehr wohlig wird. Nach Betrachtung des Bildes konnte ich mir schon ein wenig vorstellen, um was es in diesem Porträt gehen könnte. Ich mag den Gedanken, dass man eben gerade ohne ein Ziel zu haben an die Arbeit geht. Somit hat man auch keine Vorstellungen die erfüllt werden müssen. Mich würde noch folgendes interessieren: Was machst du mit Werken, die du als fertig bezeichnest? Zeigst du die der Öffentlichkeit in Form einer Ausstellung oder hängst du sie auf, oder überarbeitest du sie zu einem späteren Zeitpunkt?
    Liebe Grüsse Liv und bleibt gesund! 🙂

  2. Valentina Ernst sagt:

    Liebe Lou, liebe Mira,
    Das Porträt über Bruno und seinen heiligen Ort, hat mir in einigen Dingen ein Stück weit die Augen geöffnet. Zum Beispiel, als er Kirchen, ob Christlich oder aus anderen Religionen, mit Räumen, Stein und Licht beschrieb. Im Endeffekt sind alle schön auf ihre Weise mit nur diesen Komponenten. Auch das Atelier gefällt mir sehr gut und die Fotos, die ihr zeigt, haben eine schöne Atmosphäre. Besonders ist mir Brunos Erklärung zum Unterschied zwischen Religion und Glauben und einem heiligen Ort beschreibt.
    Etwas, das mich noch interessieren würde, ist ob Bruno Ausstellungen mit seinen Werken organisiert und ob er sich selber als „Künstler“ bezeichnen würde?
    Liebe Grüsse und bis bald, Valentina

  3. Jeanne Schmid sagt:

    Liebe Lou, liebe Mira

    Euer Portrait hat mir extrem gut gefallen! Ich hatte das Gefühl mich sehr in Bruno hineinversetzen zu können und seine Ansichten über seinen heiligen Ort fand ich äusserst interessant. Die Aussage, dass er sich an seinem heiligen Ort nicht immer genau gleich fühlt und manchmal sogar schlechter, hatte ich bis jetzt noch nicht gelesen. Im Allgemeinen seine Ansichten über das Leben und der Glaube daran, dass wir alle nach etwas suchen, dass mehr ist als „nur“ wir selbst, fand ich sehr interessant. Es scheint, als würde er sich sehr viele Gedanken über das Leben und unser Dasein machen, aber dies komplett unabhängig von der Religion. Das fand ich sehr interessant.

    Liebe Grüsse und bleibt gesund, Jeanne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.