Wo ich mich auf Gott einlassen kann

Bild: Bente Bruns

Ich habe mir noch nicht oft Gedanken darüber gemacht, ob ich einen heiligen Ort habe oder nicht. Aber als ich darüber nachgedacht habe, ist mir doch aufgefallen, dass es Orte gibt, an denen mir bewusst wird, welchen Platz ich in der Welt habe, und die mir helfen, mich auf Gott einzulassen.

VON BENTE BRUNS

Gedanken teilen und für mich behalten

Ich heisse Renate Dienst und bin Pfarrerin in der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Bern. Ich bin Anfang fünfzig und lebe noch nicht allzu lange in Bern, aber als Studentin habe ich schon einmal hier gelebt. Ich glaube, ich bin eine eher ruhige Person, die sich am Anfang erst einmal etwas zurückhält, wenn sie neue Leute kennen lernt. Aber ich versuche trotzdem, anderen gegenüber offen zu sein und langsam Vertrauen aufzubauen.

Kontakt mit Menschen ist mir nämlich sehr wichtig, obwohl ich auch ab und zu Zeit für mich brauche. Hauptsächlich, um meine Gedanken sortieren zu können. Ich kann auch nicht sagen, ob ich introvertiert oder extrovertiert bin. Mir ist es sehr wichtig, meine Gedanken für mich in Ruhe zu verarbeiten, aber mindestens genauso wichtig ist es mir, meine Gedanken mit anderen zu teilen und zu besprechen.

Heilige Orte sind Teil meines Berufes

Als Pfarrperson ist Religion und Glaube natürlich ein Teil meines Lebens, sowohl privat als auch beruflich. Einen grossen Unterschied gibt es da nicht. Durch meinen Beruf habe ich viele «klassische» heilige Orte besucht. Hauptsächlich Kirchen, aber auch Synagogen und Moscheen.

Ein sehr eindrückliches Erlebnis war der Gottesdienst in einer Reformsynagoge in Jerusalem. Das lag daran, dass ich gar nicht erwartet hatte, so eingebunden und mich so willkommen zu fühlen. Vor allem hatte ich auch nicht erwartet, dass ich aus meiner Zuschauerrolle herausfinden würde. Anderen Orten jedoch, in anderen Situationen, wie zum Beispiel beim Besuch der Klagemauer, begegne ich mit etwas mehr Distanz. Das hat damit zu tun, dass ich mich nicht immer wohl fühle, wenn ich mich irgendwo einbringe, obwohl ich das Gefühl habe, dass es für mich nicht so wichtig ist wie für andere. An der Klagemauer zum Beispiel fand ich es wichtiger, dass gläubige Juden das tun können, was sie wollen, ohne gestört zu werden, als dass ich als Touristin die Klagemauer aus der Nähe bestaunen konnte.

Ganz grundsätzlich finde ich religiöse Gebäude architektonisch meistens beeindruckend, wenn auch nicht alle gleich. Bei mir ist es aber nicht so wie vielleicht bei anderen, dass ich, sobald ich ein religiöses Gebäude wie eine Kirche betrete, ein besonderes Gefühl habe oder so. Für mich sind es Gebäude, so wie andere auch. Ich weiss nicht genau, warum das so ist, aber ich kann mir vorstellen, dass es zumindest bei den Kirchen damit zu tun hat, dass sie für mich teilweise Arbeitsorte sind und dadurch zu sehr mit dem Alltag zu tun haben. Trotzdem können sie für mich zu heiligen Orten werden, wenn ich dort mit Leuten zusammen Gottesdienst feiere.

«Sie machen mir meinen Platz in der Welt bewusst.»

Renate Dienst

Ganz allgemein würde ich sagen, dass Menschen heilige Orte brauchen, um nachzudenken und um sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. An besonderen Orten kommen wahrscheinlich andere Gedanken als im Alltag auf. Und ich denke, dass zum Beispiel Kirchen eben für viele keine alltäglichen Orte sind.

Mein heiliger Ort

Da ich selber immer wieder umgezogen bin, haben sich auch meine heiligen beziehungsweise besonderen Orte verändert. Sie sind also nicht fixiert oder so. Heilige Orte sind für mich Orte, an denen ich gut nachdenken kann und mir meines Platzes in der Welt bewusst werden kann. Es gibt dann auch immer wieder Situationen, in denen ich mir bewusst werde, dass es etwas Grosses, Umfassendes gibt und ich ein Teil davon bin. Dadurch fühle ich mich nicht klein oder unwichtig, ich merke einfach, welchen Platz ich in der Welt habe. Ausserdem merke ich, dass ich dafür unglaublich dankbar dafür bin. Immer wenn ich in der Natur bin, oder wenn ich die Natur sehe, dann kommen diese Gefühle und Gedanken in mir auf. Hier in Bern ist das vor allem dann der Fall, wenn ich die Berge sehe.

Deswegen gibt es auch mehrere Orte, die mir wichtig sind, wie zum Beispiel die Bundesterrasse, die Grosse Schanze oder die Kirchenfeldbrücke. Was mir an der Kirchenfeldbrücke besonders gut gefällt, ist, dass man in einem Moment die Berge sieht – und geht man nur ein paar Schritte weiter, sieht man sie nicht mehr. Ich finde, dass das den Übergang vom Alltag zu einem besonderen Moment ganz schön repräsentiert. Wenn man von der Altstadt her kommt, sieht man zum einen die Berge, zum anderen das Historische Museum. Die Aare, die untendurch fliesst, sieht und hört man ebenfalls. Auf der rechten Seite ist die Bundesterrasse und auf der linken Seite befinden sich ein Wald, ein Restaurant und die Altstadt.

«Manche Orte helfen mir, mich auf Gott einzulassen […] aber es ginge auch anders.»

Renate Dienst

Wenn ich aber die Berge sehe und merke, dass es etwas Grossen, Umfassendes gibt, fällt es mir leichter, über existenzielle Dinge nachzudenken als im Alltag. In solchen Momenten merke ich, dass es Gott gibt, und ich kann mit ihm ins Gespräch kommen, durch Gebete.

Bild: Bente Bruns

Manchmal suche ich meine heiligen Orte auf, wenn ich nachdenken muss, und manchmal führt es mich von ganz alleine dorthin. Es gibt aber auch Situationen, in denen ich das Bedürfnis habe, an meinen heiligen Ort zu gehen, das aber gerade nicht möglich ist. Da reicht es mir auch, mich an den Ort zu denken. Wobei ich auch sagen muss, dass ich meinen heiligen Ort nicht zwingend brauche, um zu Gott zu kommen. Er hilft mir aber, mich auf ihn einzulassen. Grundsätzlich ist mein heiliger Ort für mich dafür da, wenn ich gerade nachdenken oder zur Ruhe kommen möchte. Aber ich kann dort genauso gut alltägliche Sachen tun, wie zum Beispiel Stricken. Dadurch werden aber alltägliche Tätigkeiten weniger alltäglich.

«Besondere Orte teile ich gerne.»

Renate Dienst

Etwas, was für mich einen heiligen Ort ausmacht, ist, dass man ihn mit anderen Menschen teilen kann. Wann immer ich in Bern Besuch bekomme, zeige ich als Erstes meine heiligen Orte, weil ich sie so schön finde und sie teilen möchte. Denn Orte werden für mich erst dann wirklich wichtig, wenn ich nicht nur mit Gott und mir ins Gespräch kommen kann, sondern auch mit anderen. In Deutschland hatte ich natürlich auch heilige Orte, die aber mehr an andere Menschen gebunden waren. Denn Orte können auch durch die Menschen, die dort sind, heilig werden. Es waren auch Orte, die ich mit besonderen Ereignissen in Verbindung bringe. Dort haben mir Menschen zugehört und geholfen, als ich es gebraucht habe, und ich weiss, dass sie es wieder tun würden.

3 Antworten

  1. Sarah sagt:

    Liebe Bente,

    Mir hat dein Porträt wirklich sehr gut gefallen. Nach dem Bild habe ich sofort Gedanken gehabt, wieso dieser Ort wohl heilig sein könnte. Nach dem Lesen kann ich die Gedanken der porträtierten Person, gerade zu Bern, sehr gut verstehen. Besonders gelungen ist dir auch die Beschreibung der Orte, denn vor meinem inneren Auge habe ich sie sofort wiedererkannt.
    Ich würde mir zu deinem Porträt folgende Fragen stellen: Wie genau sieht die Protagonistin ihren eigenen Platz, da sie ja meinte, sie erkenne, dass sie Teil dieser Welt sei, wenn sie dieses Grosse und Umfassende erkennt? Warum ist es genau die Natur, die mit diesem Gefühl verbunden ist?

    Liebe Grüsse und weiterhin alles Gute!
    Sarah

  2. Zhiqing sagt:

    Liebe Bente,

    als ich zuerst das Bild gesehen habe, war erstaunt, da ich nicht dachte, dass etwas so alltägliches (zumindest für mich) wie die Kirchenfeldbrücke „heilig“ sein könnte. Aber das Porträt hat gezeigt, dass eigentlich jeder Ort – egal wie banal er auch für andere sein mag, heilig sein oder werden kann.
    Ich mag das Porträt sehr und die Art wie es gestaltet ist. Die Gedankengänge der porträtierten Person sind interessant und gut nachvollziehbar. Es zeigt wie wichtig heilige Orte sind und Menschen helfen. Zudem fand ich es besonders spannend zu lesen, wie die Person ihre heiligen Orte gerne mit anderen teilt. Meistens behält man einen Ort für sich, damit er wie seine Heiligkeit bewahrt, aber die Protagonistin macht gerade das Gegenteil und erzählt anderen davon – somit können auch Personen zur Heiligkeit eines Ortes beitragen.

    Auch mich wundert es, wieso gerade die Natur eine so wichtige Rolle spielt beim Gefühl der Heiligkeit. Zudem spricht sie von ihren heiligen Orten in Deutschland in der Vergangenheit – heisst das, dass diese „alten“ heiligen Orte nicht mehr heilig sind – auch, wenn sie zu ihnen zurückkehrt?

    Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft!
    Liebe Grüsse
    Zhiqing

  3. Michelle Berger sagt:

    Liebe Bente

    Natürlich bin ich schon x-mal über die Kirchenfeld brücke spaziert. Aber durch deinen Text und die Fotos, sehe ich auch gut, wie man diesen Ort als seinen heiligen Ort wählen kann. Die Bilder vermitteln zwar eine gewisse Vertrautheit, aber dennoch kann ich sie jetzt auch anders wahrnehmen und sehe das besondere daran.

    Ich finde es wunderschön, wie du beschreibst, dass deine Interview-Partnerin ihren heiligen Ort teilen kann. Denn die Kirchenfeldbrücke ist nicht gerade ein einsamer Ort. Was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, ist dass die Pfarrerin nicht eine Kirche, sondern eine einfache Brücke zu ihrem heiligen Ort auserkoren hat. Das finde ich sehr beeindruckend und auch sehr ungewöhnlich.

    Ich würde gerne wissen, ob es deine Interview-Partnerin nicht stört, dass diese Brücke so zugänglich, laut und meines Erachtens unruhig ist. Ich meine, es fahren ständig Trams und Autos vorbei, man hört den Lärm der Stadt und Leute sind dort auch ständig unterwegs. Aber dennoch kann sie dort ihren Frieden finden.

    Wie häufig besucht deine Interview-Partnerin ihren heiligen Ort?

    Liebe Grüsse und hoffentlich bis bald (vermisse dich)
    Michelle Berger

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.