Kleiner Käfer mit grosser Wirkung

Bild: Noémie von Wattenwyl

Eigentlich glaubt Gabriela nicht an Glücksbringer. Und trotzdem trug sie jahrelang ein kleines Tier aus Keramik mit sich, einen Skarabäus. Heute steht der Käfer bei ihr im Bad und erinnert Gabriela und ihre Familie jeden Tag daran, mit einer positiven Einstellung in den Tag zu starten.

VON NOÉMIE VON WATTENWYL

Langsam dreht Gabriela den kleinen Skarabäus zwischen ihren Fingern. Skarabäus heisst «Glückskäfer» auf Altgriechisch. In Ägypten ist der Glücksbringer in Form von einem Talisman weit verbreitet. Sie sieht, dass an manchen Stellen der hellblaue Farbüberzug des Skarabäus schon ein bisschen abbröckelt. Gabriela ist 52 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern auf dem Land. Sie ist katholisch aufgewachsen, doch Religion spielt in ihrem Leben heute keine grosse Rolle mehr. Die Arbeit als Logopädin bereitet ihr grosse Freude, aber zu ihren allerliebsten Beschäftigungen gehören wandern, lesen und durch die Welt reisen. Der kleine blaue Skarabäus in ihren Händen erinnert sie an eine von ihren ersten Reisen nach Ägypten. 

Ein Skarabäus aus dem Suq

Mit nur neunzehn Jahren begab sich Gabriela mit einer Freundin auf die Reise nach Ägypten. Als erstes stand eine Schifffahrt in einer Feluke, einem zweimastigen Segelboot, an. Von Luxor aus, einer Stadt in Oberägypten, segelten sie den Nil hinauf bis nach Assuan. Kurz vor der Abfahrt kaufte sie auf einem typisch ägyptischen Suq, einem Markt, den kleinen Skarabäus als Andenken an die Reise. Zu diesem Zeitpunkt war ihr noch nicht bewusst, wie viel Glück ihr dieses kleine Stück Keramik noch bringen würde. Die Reise ging weiter und die beiden Freundinnen beschlossen, den Moses-Berg zu besteigen. Nach stundenlangem Wandern durch die felsige Landschaft kamen sie endlich oben an. Sie entschlossen sich, auf dem Berg zu übernachten und den Sonnenaufgang über der Wüste Sinai zu geniessen. Jedoch hatten sie nicht bedacht, wie kalt die Nacht in der Wüste werden konnte. Sie hatten beide nur je eine Jacke dabei und fingen an zu frieren. Und jetzt kam der Glücksbringer ins Spiel. Völlig durchgefroren fanden sie einen kleinen Laden auf Rädern und konnten für etwas Geld ein paar Decken aus Wolle mieten. 

Einigermassen warm überstanden sie die Nacht und genossen einen atemberaubenden Sonnenaufgang. Gabriela und ihre Reisegefährtin wiesen das Glück, dass sie mit dem Fund der Decken hatten, dem Skarabäus zu. Für den Abstieg wählten die zwei einen Beduinenpfad, der viel schöner als der normale Weg war, aber auch viel gefährlicher. Fast bis zum Ende des Weges ging alles gut, bis Gabriela von einem kleinen Felsen heruntersprang und es zischen hörte. Sie sahen nur noch das Ende einer braunen Schlange unter einem Stein verschwinden. Nach diesem erschreckenden Erlebnis waren die beiden Freundinnen überzeugt, dass der kleine Skarabäus sie auf ihrer Reise durch Ägypten beschützte.

Ein göttliches Tier

Schon seit der Kindheit war Gabriela fasziniert von der ägyptischen Kultur. Der Skarabäus, in der Schweiz als Mistkäfer bekannt, ist ein Teil dieser langen Kulturgeschichte, denn er hatte eine sehr grosse Bedeutung für die Ägypter. Erstens lebte der Käfer am Nil, der Wasserquelle von Ägypten. Kurz vor der für die Bevölkerung überlebenswichtigen Nilschwemme krochen die Tiere instinktiv in die Häuser, um sich vor den Wasserfluten zu schützen. Die Menschen wussten nun, dass der Wasserpegel des Nils jeden Moment anfangen könnte anzusteigen. Somit hatten sie genug Zeit, ihre Familie und Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen und sich auf die Überschwemmung vorzubereiten. 

Der zweite wichtige Punkt, erklärte Gabriela, hat mit einem bestimmten Verhalten des Käfers zu tun. Er rollt Kugeln aus Dung vor sich her, in die er seine Larven legt – und wird daher auch Mistkäfer genannt. Aus den Kugeln schlüpfen dann nach einiger Zeit die jungen Käfer. Die damalige Bevölkerung verstand aber nicht, woher die kleinen Käfer kamen. Sie konnte sich dieses Phänomen nur mit göttlicher Hilfe erklären und sahen ihn daher als Verkörperung verschiedener Götter, wie zum Beispiel dem Sonnenaufgangsgott Chepre. Auch heute noch glauben viele Ägypter an die glückbringenden Kräfte des Tieres.

Gabriela unterscheidet ganz klar zwischen kulturellen und individuellen Glücksbringern. Kulturelle oder nationale Glücksbringer gibt es fast überall auf der Welt. In der Schweiz glauben wir zum Beispiel, dass Hufeisen, vierblätterige Kleeblätter oder Schornsteinfeger Glück bringen. Sie alle haben, wie der Skarabäus, eine Geschichte, die ihre Eigenschaft, Glück zu bringen, erklärt. Gabriela stellt mir hier die Frage, ob ein kultureller Glücksbringer auch Menschen aus einem anderen Kulturkreis Glück bringen kann. 

Ein individueller Glücksbringer hingegen ist etwas, dass wir uns selbst aussuchen oder finden. Meistens kommt man durch ein persönliches Erlebnis dazu. In Gabrielas Fall ist ein kultureller zu einem individuellen Glücksbringer geworden.

Religion oder Aberglaube

Obwohl Gabriela sich selbst nicht als religiös bezeichnet, glaubt sie aus irgendeinem Grund an die Fähigkeit des Skarabäus, ihr Glück zu bringen. Sie sieht den Skarabäus jedoch nicht als göttliches Wesen, wie die Ägypter das tun. Am Anfang des Interviews hat sie das mehrmals betont. Aber was bewegte Gabriela dazu, den Glücksbringer jahrelang in ihrem Portemonnaie herumzutragen?

«Ich verbinde ein Glücksbringer nicht mit Religion, sondern mehr mit Aberglauben.»

Gabriela

Dank der Zuschreibung von positiven Eigenschaften wie der Schutz vor dem Erfrierungstod und vor Schlangenbissen hatte der Skarabäus einen hohen Stellenwert auf der Reise der zwei jungen Frauen. Nach der Reise symbolisierte der kleine Käfer ausschliesslich den Glauben an ein gutes Ende einer Situation und die daraus gewonnene positive Einstellung zum Leben. Somit ist der Glücksbringer einerseits eine schöne Erinnerung an die Reise, andererseits aber auch eine Erinnerung an eine positive Einstellung. Für Gabriela kann ein Glücksbringer theoretisch eine Person, ein Lied oder eben ein Objekt sein. Wichtig ist nur die persönliche Beziehung dazu. 

1 Antwort

  1. Nina sagt:

    Du hast diesen Beitrag sehr angenehm verfassst. Ich finde die Mischung von Gabrielas Glücksbringer und seiner Geschichte sowie den allgemeinen Glücksbringeraspekt schön dargestellt. Hast du selbst auch einen Reise-Glücksbringer?

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