Schutzengel am Türrahmen

Bild: Sophie Iseli

Seit ich mich erinnern kann, sind an den allen Türrahmen unserer Wohnung kleine Kapseln angebracht. Als Kind waren diese kleinen länglichen Kästchen etwas ganz Normales für mich. Heute weiss ich, welche wichtige Rolle eine sogenannte Mesusa für den jüdischen Haushalt spielt und ich sehe diese mit ganz anderen Augen. 

von Sophie Iseli

Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, viele verschiedene Gebiete interessieren mich. Oft mache ich mir auch Gedanken über Gott und die Welt und sinniere vor mich hin. Dem Phänomen Religion begegne ich in meinem Alltag häufig, sei es zu Hause oder in der Schule. Ich selbst bin mit jüdischen Traditionen aufgewachsen, doch ich bin Atheist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch eine höhere Macht gibt, vielleicht bin ich zu unkreativ oder denke zu rational. Manchmal wünsche ich mir, gläubig zu sein. Denn häufig fehlt mir in meinem Alltag ein gewisser Halt und Rückzugsort. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass mir der Glaube an Gott diese Lücke in meinem Leben füllen könnte. 

Die Mesusa vermittelt Schutz – und Wohlbehagen

Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, als mir mein Vater das erste Mal erzählt hat, welche Funktion diese Kästchen eigentlich haben. Die Idee dahinter ist, dass Gott über das Haus wacht. Ein Schutz der jeden Bewohner des Haushaltes verteidigt.

Früher als Kind konnte ich mir diesen Schutz nicht richtig vorstellen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass eine Art Kuppel über unserer Wohnung liegt, an der alles Böse und Schlechte abprallt.

«Die Idee dahinter ist, dass Gott über das Haus wacht. Ein Schutz, der jeden Bewohner des Haushaltes verteidigt.»

Heutzutage bin ich zu alt, um mir so einen Schutz vorstellen zu können. Ich bin mir selbst nicht einmal mehr sicher, ob und wie sehr ich an diesen Schutz glaube. Wahrscheinlich ist es mehr ein Gefühl des Wohlbefindens. Doch die lange Tradition und meine kindlichen Erinnerungen haben dazu geführt, dass ich immer noch ein kleines bisschen an dem Schutzgedanken festhalte.

Gebete auf Pergament

In jeder Mesusa in unserer Wohnung ist ein Gebet aus der Tora eingerollt, genauer gesagt zwei Abschnitte aus dem Schma, dem Glaubensbekenntnis. Das Schma ist eines der wichtigsten Gebete aus dem Judentum. Sowohl im Abend- als auch im Morgengebet kommen Gebetselemente daraus vor. Ein Gebot der Schma besagt, dass eine Mesusa an der Tür jedes Haushaltes angebracht werden soll.

Unsere Mesusot werden jeweils auf der oberen Hälfte der Türrahmen befestigt, also etwa auf Augenhöhe. Die Mesusot sind rechts am Türrahmen angebracht und hängen leicht schräg. Mit der Erklärung, dass nur Gott Dinge gerade machen kann.

Vielfalt der äusseren Verpackung

Es gibt optisch viele verschiedene Versionen der Mesusot. Auch für Kinder gibt es eigene Designs, zum Beispiel Prinzessinnen, Autos oder Feuerwehrfrauen. Ausserdem variieren die Kapseln beim Material, von Keramik über Holz bis hin zu Metall. Was sich aber nie unterscheidet ist deren Inhalt. Es ist sehr wichtig, dass immer dieselben Gebetsauszüge der Schma verwendet werden. 

«Jede Mesusa sieht anders aus, ob kitschig, bunt gemustert oder schlicht.»

Auch werden die Pergamentrollen nie ausgetauscht; sind die Gebetsauszüge einmal in der Hülse drin, bleiben sie auch dort. Eigentlich ist es Tradition, dass eine Mesusa nie von ihrem Türrahmen entfernt wird. Wenn man aus einer Wohnung auszieht, lässt man die Mesusot hängen und die Nachmieter freuen sich über den Schutz und das Vertrauen, welche so übermittelt werden. Ich finde das einen der schönsten Bräuche im Judentum: Ein Gefühl von Gemeinschaft, welches so weitergegeben wird.

«Eine Mesusa steht nicht zwingend in Verbindung mit dem Glauben.»

Die Werte des Judentums hat mir mein Vater vermittelt. Ihm war es sehr wichtig, dass ich und meine Geschwister die jüdische Kultur kennenlernen. Mein Vater berührt jedes Mal beim Verlassen des Hauses die Mesusa. Er tut das aus Gewohnheit. Er nimmt es, glaube ich, nicht einmal mehr als eine bewusste Handlung wahr. Ich hingegen, der ich nicht an einen Gott glaube, verbinde die Mesusa nicht mit dem Glauben. Ich denke, dass ich nicht zwingend religiös sein muss, um an einen Schutzgegenstand zu glauben. Meiner Meinung nach ist die Mesusa mehr eine Markierung eines jüdischen Haushaltes oder schöner gesagt eine Verzierung.

«Für mich gehen Religion und der Glaube an Schutzgegenstände nicht zwingend Hand in Hand.»

Die Wirkung eines Schutzgegenstandes

Natürlich kann man die Wirkung der Mesusa nicht messen. Allgemein kann man bei allen Gegenständen, die vor etwas beschützen sollen, nie genau unterscheiden, ob der Schutz real oder eingebildet ist. Ich denke, dass in vielen Fällen Schutz mit dem Gefühl der Sicherheit verwechselt wird. Oder vielleicht hat sich über die Jahrzehnte die Bedeutung der Wörter verändert. Natürlich ist Schutz in diesem Sinne ein sehr spiritueller Ausdruck. Schutz kann nicht definiert werden, für jeden ist Schutz etwas Persönliches, etwas Individuelles. Vielleicht wird deshalb oft der Begriff Schutz verwendet, da er eben nicht definierbar ist. 

Abschliessend kann ich sagen, dass viele meiner Empfindungen und Gefühle gegenüber diesem Gegenstand aus meiner Kindheit stammen. Damals war ich mehr von solchen Objekten geleitet und sie spielten im Allgemeinen eine viel wichtigere und grössere Rolle als heute. Was wahrscheinlich daran liegt, dass man als Kind hilfloser ist und etwas braucht, woran man sich festhalten kann. Ich war eher ein ruhiges Kind, brauchte meinen Raum, brauchte den Abstand. Ich mochte solche kleinen Dinge, die einem Glück bringen oder die Sicherheit versprechen. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir das Gefühl von Schutz vermitteln konnten. 

Bemerkenswert finde ich, dass ich ein Gefühl von Sicherheit bekomme, sobald ich eine Mesusa sehe. Das zeigt mir als Atheist, dass Religion und ihre Traditionen wie auch Schutzgegenstände nicht zwingend voneinander abhängen. Wenn ich später einmal eine Familie gründen werde, möchte ich auch meinen Kindern die Bräuche und Traditionen aus dem Judentum weitergeben. Und wer weiss, vielleicht werde ich in ein paar Jahren meine Meinung über Gott ändern und werde anfangen, den jüdischen Glauben zu praktizieren.

5 Antworten

  1. Nina sagt:

    Ich habe viel über den Schutzbringer Mesusa gelernt, ich persönlich kenne keine Bräuche aus dem Judentum. Ich finde es schön und auch spannend, dass du als Atheistin trotzdem eine Verbundenheit spürst. 🙂

  2. Johanna sagt:

    Es ist immer wieder spannend, etwas über Kulturen zu lernen, die mir selbst nicht so nahe stehen. Ich habe das Gefühl, auch hier wieder etwas gelernt zu haben, es ist ein spannendes und vielfältiges Portrait.

  3. clara sagt:

    Dein Beitrag ist sehr abwechslungsreich geschrieben! Durch deinen Text habe ich viele neue und interessante Dinge unter anderem auch über das Judentum erfahren. Was mir besonders gefallen hat, ist, dass du über eine/n Atheist/in im Bezug zu einer Religion geschrieben hast.

  4. Moritz sagt:

    Sehr schön geschrieben. Es gibt einen guten Eindruck über eine Kultur die mir nicht so bekannt ist.

  5. Ella sagt:

    Sehr schön gschrieben! Ich mag es wie du die Person beschreibst und sie abbildest ohne oberflächliche Informationen preiszugeben.

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