Tinte ins Glück

Bild: Yael Bloch

Der seit Generationen weitergegebene Pelikan-Füller hat in Lillys Leben einen sehr hohen Stellenwert, da er bereits seit fast 100 Jahren in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird. Somit hat der Stift vom 2. Weltkrieg aus, über die Nachkriegszeit bis hin zum heutigen Tag schon so einiges miterlebt. 

von Yael Bloch 

Wer ist Lilly?

Lilly ist 18 Jahre alt. Sie wohnt in Basel und besucht dort das Gymnasium am Münsterplatz. Ich habe sie im Jahr 2018 in einem jüdischen Ferienlager kennengelernt und schloss schon sehr bald eine enge Freundschaft mit ihr. In ihrer Freizeit geht sie gerne in ihren Jugendbund, backt viel und spielt zusätzlich begeistert Ukulele und Klavier. Sehr wichtig in ihrem Leben sind für sie ihre Familie und Freunde. Sie behauptet von sich selbst, sie sei ein sehr aufgeschlossener und lebensfroher Mensch. Eine eher negative Eigenschaft ist laut eigener Auskunft ihre oft unnötige Nervosität. 

Wie bereits erwähnt ist Lilly jüdisch und dementsprechend auch gläubig. Mit dem Wort «gläubig», nach ihrer Definition, meint sie jedoch nicht nur den Glauben an G’tt, den sie mit ihrer Religion verbindet. Denn sie glaubt auch an andere Dinge wie Schicksal und dass gewisse Dinge im Leben vorausbestimmt sein können. Auf die Frage hin, ob sie einen bestimmten Glückbringer habe, guckt sie mich mit einem leichten Grinsen an und fängt dann an, mir von einem Füller zu erzählen, der schon so manches miterlebt habe. 

Aussehen des Stifts

Der Stift ist schwarz, mit goldigen Verzierungen versehen, und hat das Wort «Pelikan» eingraviert. Der Stift besteht aus Metall und ist deshalb sehr kalt, wenn man ihn in den Händen hält. Da er mit einer Art Lack überzogen ist, ist er ganz glatt und glänzend. Unter der Hülle befindet sich eine ebenfalls goldige Füllfeder. Ein Teil der Hülle ist ausserdem durchsichtig, dies ermöglicht eine Einsicht in das Innere. Da in der Familie schon immer sehr Sorge zu dem Stift getragen wurde, hat er beinahe keine Kratzer oder sonstige Gebrauchsspuren. Man könnte meinen, dass er neu gekauft wurde, obwohl er nun fast 100 Jahre alt ist. 

Der historische Hintergrund

Die Geschichte des Stifts reicht schon etwas länger in die Vergangenheit zurück, genauer in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Denn bei dem ursprünglichen Besitzer des Pelikans handelt es sich um niemanden geringeren als ihren Grossvater, der den Stift besass, seit er denken konnte. Ihr Grossvater Mejer ist 1920 zur Welt gekommen und starb im Jahr 2000. Lilly konnte ihren Grossvater also nie kennenlernen. 

Lillys Grossvater kämpfte im zweiten Weltkriegs als sowjetischer Partisan gegen die Nazis. Dort verlor er alles. Er musste zusehen, wie seine gesamte Familie vor seinen Augen erschossen wurde und verlor danach auch noch alle seine persönlichen Gegenstände. Er konnte einzig und allein etwas aus dem Elend des Kriegs retten, und zwar seinen über alles geliebter Füller. 

Später schenkte er dieses wertvolle und bedeutsame Objekt Lillys Vater zu seinem 18. Geburtstag. Ihr Vater verlieh ihn dann wiederum Lilly zu ihrem 18. Geburtstag. Es sei klar, sagt sie, dass man den Stift um alle Kosten bewahren und immer in der Familie weitergegeben soll.

Der sentimentale Wert und Nutzen

Lilly erzählt mir, dass sie ihren wertvollen Glücksbringer nur selten irgendwohin mitnimmt, denn sie habe stets Angst, dass er kaputt oder verloren gehen könnte. Sie geht ausserdem höchst vorsichtig mit ihrem Stift um, um ihn möglichst vor Kratzern oder anderen Macken zu schützen.

«Es fällt mir oft schwer zu realisieren, wie viel bedeutende Geschichte eigentlich hinter so einem kleinen Stift steckt.»

Lilly

Lilly benützt ihren Glücksbringer jedoch nicht so, wie man es normalerweise erwarten könnte. Sie bringt ihn zum Beispiel nicht zu einem Test mit, damit er ihr Glück bringt. Vielmehr benützt sie den Stift tatsächlich nur sehr selten, dafür jedoch gezielt. Sie unterschreibt mit ihrem wertvollen Glücksbringer nämlich ausschliesslich ihrer Meinung nach wichtige Dokumente, wie zum Beispiel eine Vollmacht bei der Bank.

«Ich könnte mir es selbst nie verzeihen, wenn ich ein so bedeutsames Fundstück aus meiner Familie verlieren würde.»

Lilly

Laut Lilly hat ihr Glücksbringer vor allem zwei wichtige Nutzen. Zum einen glaubt sie fest daran, dass Dinge, auf welche sie mit ihrem Stift unterschreibt, «gut herauskommen» und diese Dinge ihr in der Zukunft Glück bringen. Zum Beispiel hat sie, nachdem sie die Vollmacht das von ihren Eltern angelegten Sparkontos unterschrieben hatte, ein ganz warmes Gefühl bekommen, beschreibt sie. Dadurch, dass sie mit dem Stift unterschrieben hat, hatte sie nicht das Gefühl allein zu sein, sondern ganz im Gegenteil. Für Lilly fühlt es sich so an, als würde ihre ganze Familie hinter ihr stehen, mit dem was sie gerade macht. 

«Wenn der Stift bei mir ist, fühle ich die Anwesenheit meiner verstorbenen Familie.»

Lilly

Der zweite Nutzen sei für sie die Verbundenheit mit der Geschichte und somit der Vergangenheit, die ihre Familie hat. Denn Lilly konnte einen Grossteil ihrer Familie aufgrund des Holocaust leider nie kennenlernen. Sie sagt darüber: «Es ist für mich beinahe unvorstellbar, wieviel Geschichte eigentlich in diesem kleinen Füller steckt und wieviel ein kleines materielles Objekt einem bedeuten kann.» Sie möchte auf diese Art, indem sie den Füller für die wichtigsten Dinge in ihrem Leben nutzt, ihre Familie symbolisch weiterleben lassen.

Aberglaube

Auf meine Folgefrage, ob all diese Glücksbringer nicht nur Aberglaube seien, grinst sie mich an, und entgegnet, dass dies durchaus möglich sei. Nach alledem, was Lilly mir bereits erzählt hatte, war ich auf diese Antwort nicht gefasst. 

Die Erklärung für ihre Antwort leuchtet jedoch ein: Sie erzählte mir nämlich, dass es ihr egal sei, ob es Aberglaube ist oder nicht. Es sei ihr komplett gleichgültig, ob andere an Glückbringer glauben oder nicht. Für sie sei das Einzige, was zähle, dass sie – und nur sie – daran glaubt. Auch wenn andere sie möglicherweise für diesen Glauben verspotten könnten, sei ihr das egal, denn sie wisse, dass ihr eigener Glückbringer ihr auf ihrem Weg, egal was komme, immer Glück bringen wird.

5 Antworten

  1. Amina sagt:

    Besonders am Portrait gefällt mir, dass du auch die geschichtlichen Aspekten miteingebracht hast.

  2. Charlotte sagt:

    Ich finde es sehr schön, dass dieser Glücksbringer nur für sehr besondere Dinge eingesetzt und nicht wegen des glücksbringenden Aspekts „ausgenützt“ wird. Ein toller Text mit tollem Inhalt!

  3. Julia Sutter sagt:

    Ein sehr bewegendes Portrait mit einem spannenden historischen Hintergrund. Die Antwort auf die Frage, ob das Ganze nicht nur Aberglaube sei, hat mir sehr gefallen.

  4. Noemi sagt:

    Ein sehr bewegender Text! Ich finde es toll, wie die Geschichte mit der persönlichen Bedeutung verbunden wurde.
    Mir gefällt auch sehr, dass der Glücksbinger schon so alt ist aber trotzdem noch so wichtig.

  5. Fero sagt:

    Ich finde deinen Text sehr spannend, vor allem die Vorgeschichte.

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